„Taliban rekrutieren in Afghanistan Kindersoldaten. Immer mehr Kinder verlassen die Koranschulen, um in den Krieg zu ziehen. Jeder vierte Tote oder Verletzte sei ein Kind.“ So, oder so ähnlich lauteten zum Wochenanfang die Nachrichten in fast allen Medien. Seit Mittwoch sind sie bereits wieder Schnee von gestern. Nicht weil die Kinder aufgrund der aufgesetzten Empörung der westlichen Medien von diesem Albtraum befreit wurden, sondern vermutlich nur deswegen, weil diese „Kinder“ allesamt Jungen sind.
Die militärische Erziehung der Jungen beginnt in den Koranschulen mit dem sechsten Lebensjahr. Etwa ab dem zwölften Lebensjahr werden sie als Kämpfer eingesetzt. Diese Abart von Erziehung ist institutioneller Kindesmissbrauch. Die Seele der Kinder wird geknebelt und erstickt. Sie wird, selbst wenn sie den Krieg überleben, erstorben sein. Das ist Seelenmord! Die Jungen werden für den Rest ihres Lebens traumatisiert sein. Die wenigsten werden über die Resilienz verfügen, sich aus diesem Albtraum heraus ein annähernd lebenswertes Leben einzurichten. Die meisten werden zu Zombies, entseelte Menschen, die für sich und ihre Mitwelt eine dauerhafte Last sein werden.
Knabenprostitution, na und
Bleiben wir in Afghanistan. Eine andere nicht minder grausame Form des Kindesmissbrauchs, die ausschließlich Jungen betrifft ist dort die Unsitte der Bacha bazi. Ein Bacha bazi ist ein Lustknabe, der einem Mann als Statussymbol und Sexsklave unterworfen ist. Gesellschaftlich wird diese Knabenprostitution verschleiert, indem die Jungen als „Tanzknaben“ angesehen werden. Sobald die Jungen in den Stimmbruch kommen, spätestens aber wenn ihnen ein Bart wächst, sind sie als Lustknaben verbraucht. Während der Herrschaft der Taliban war es Männern verboten, einen Jungen zum Bacha bazi zu machen. Es gibt Schätzungen, dass heute, wo die Unsitte der Bacha bazi wieder ungeniert öffentlich begangen wird, jeder zweite Junge in Afghanistan bis zu seinem 16. Lebensjahr wenigstens einmal durch einen Mann sexuell missbraucht worden ist.
Über die Bacha bazi wird kaum berichtet. Wenn überhaupt, wird diese Unsitte selten als das, was sie ist, dargestellt und verurteilt, nämlich Knabenprostitution und Sklaverei.
Die besondere Absurdität zu dieser Form des gesellschaftlich akzeptierten Kindesmissbrauchs ist, dass die internationale Streitmacht gegen die Taliban einst ihre öffentliche Legitimation dadurch behauptete, afghanischen Mädchen den Schulunterricht zu ermöglichen und die afghanische Frau von der Burka zu befreien. Dass sie, während sie das eine kaum erreichten, zugleich sehenden Auges die Knaben in die Kinderprostitution entließen und sie paramilitärischen Koranschulen übergaben, ist fürwahr infam. Doch es ist in meinen Augen noch schlimmer als bösartig, es ist eine teuflische Missachtung und willentliche Entmenschlichung der Jungen. Sie werden eiskalt übersehen und ihr Leid interessiert niemanden. Es interessiert nur soweit, als dass man sie unter dem Synonym „Kinder“ an und für sich den Mädchen zuordnen und somit ihre Qual verschleiern kann. Hierdurch behandelt man sie nicht anders, als die Tanzknaben behandelt werden, man steckt sie in Mädchenkleider und übersieht so, dass man sie damit nur für den eigenen Zweck missbraucht.
Nur Mädchen können leiden
Was mich jedoch besonders entsetzt, ist die Haltung der Journalisten, die die Jungen und Männer verschweigen, sobald sie Opfer von Gewalttaten werden. Die Floskel „darunter auch Frauen und Kinder“ sobald von irgendeinem Unglück oder Massaker mit vielen Toten und Verletzten berichtet wird, mutet mich zunehmend seltsam an. Als Boko Haram in Nigeria hunderte von Jungen und Männern zusammentrieb und ermordete, wurde überwiegend von Opfern berichtet, aber nicht davon, dass die Terroristen ihre Opfer bewusst nach ihrem Geschlecht selektiert hatten. Als die gleichen Terroristen hunderte von Mädchen entführten, um sie zu versklaven, war die gesamte westliche Welt empört, und es entstand die Kampagne „Bring Back Our Girls“, die auch heute noch tagtäglich bedient wird, indem die Tage, die seit der Entführung verstrichen sind gezählt werden, und dazu ein Bild eines der entführten Mädchen veröffentlicht wird.
Das paternalistische Schweigekartell
Ich denke öfters darüber nach, warum das so ist? Warum werden männliche Opfer verschwiegen? Und warum geschieht dies Verschweigen bewusst? Man muss nur auf die Formulierungen achten, die eindeutig zu erkennen geben, dass die Worte „Jungen“ und „Männer“ wissentlich vermieden werden, wohingegen die Wendung „darunter auch Frauen und Kinder“, selbst wenn sie nur einen Bruchteil der Opfer ausmachen, beinahe zwingend eingefügt wird. – Hier geschieht etwas. Hier kehrt sich etwas von innen nach außen. Hier offenbart sich eine eindeutige Geringschätzung des männlichen Geschlechts. Und diese Geringschätzung hat nichts mit dem Geschlecht der Berichterstatter zu tun. Männer wie Frauen verfahren hier gleich. Ja, es mutet mich an, als ob Männer noch gehemmter sind, von ihren Geschlechtsgenossen als Opfer zu berichten. Es scheint also zumindest in den Redaktionen – und ebenso auch in der Politik – eine Wahrnehmung zu geben, als seien männliche Opfer gewöhnlich und nicht bemerkenswert. Als sei die Grausamkeit, die Jungen und Männern gegenüber begangen wird, und das Unglück, das sie ereilte, auch deshalb nicht bemerkenswert, weil ein männliches Opfer kein Ausweis für die Bestialität der Täter ist. Ein gefolterter Mann ist ein Folteropfer. Eine gefolterte Frau ist hingegen ein Skandal; denn erst wenn die gleiche Gewalt Mädchen und Frauen ereilt, wird sie illustrativ.
Jungs stecken sowas weg, oder nicht …
Ist diese mediale Ignoranz schlicht Abgestumpftheit? Ist sie bösartig? Oder ist sie ein Zeichen dafür, dass in unserer Gesellschaft Männer längst ausgegliedert wurden, sich selbst überlassen bleiben und keiner weiteren Fürsorge mehr bedürfen? Dabei entspricht diese ignorante Haltung durchaus nicht der allgemeinen Haltung in unserem privaten Umfeld. Hier wird bei weitem nicht derart auffällig zwischen männlichen Opfern – die es zu verschweigen gilt – und weiblichen Opfern – die es zu erwähnen gilt – unterschieden. Hier zählt für gewöhnlich jeder einzelne Mensch. Hier herrscht überwiegend Mitgefühl für jedes einzelne Opfer einer Gewalttat. Hier werden die Opfer insgesamt betrauert und nicht nach Geschlechtern selektiert.
Ich denke, es ist eine besondere Kaltschnäuzigkeit eines vermeintlich politisch korrekten Verständnisses, dass das Leid von Jungen und Männern nicht thematisieren will, weil es andernfalls das Leid möglicher weiblicher Opfer diminuiert. Es scheint, als herrsche hier eine perverse Opferkonkurrenz. Das schlimme dabei ist allerdings, dass diese Art der Entviktimisierung auf lange Frist gleichwohl den allgemeinen Blick auf Schandtaten verändert, indem sie ihn einerseits schärft und andererseits trübt.
Gewalttätige Frauen bleiben Opfer
Wir sehen dies bei der häuslichen Gewalt, die überwiegend Partnergewalt ist und an der beide Geschlechter gleichermaßen beteiligt sind. Doch geschlagene Männer passen nicht ins Bild. Der Effekt ist, dass es landauf, landab Zufluchtsorte für geschlagene Frauen gibt, jedoch im ganzen Land derzeit gerademal drei Männerhäuser gibt. Frauengewalt gegenüber ihren männlichen Partnern wird so gründlich verschwiegen, dass die meisten Menschen, die diese Tatsache nicht erleiden oder beobachten, sie nicht für möglich halten.
Das gleiche gilt für sexuelle Gewalt gegenüber Jungen. Wenn überhaupt, können sie sich die meisten Menschen nur als Gewalt von Männern, doch keineswegs als sexuellen Missbrauch von Frauen gegenüber Jungen vorstellen. Dabei wird nach der aktuellen Mikado-Studie des Familienministeriums die Hälfte aller sexuell missbrauchten Jungen von Frauen missbraucht; sieben Prozent davon von ihrer eigenen Mutter.
Noch krasser ist das Verhältnis von körperlicher und seelischer Gewalt gegenüber Kindern. Hier fallen Frauen, meist Mütter, geradezu aus dem Rahmen. Sie sind es, die überwiegend ihre Kinder töten oder krankenhausreif schlagen. Allerdings entgleitet auch dieses stille Verbrechen der Wahrnehmung, weil darüber nur spärlich berichtet wird. (Siehe hierzu auch „Kindesmisshandlung – die Sicht der Täter„.)
Hieraus ergab und ergibt sich allerdings wie schon all die Jahrzehnte hindurch, in denen der sexuelle Missbrauch von Mädchen zurecht skandalisiert wurde, weder eine Debatte noch Forderungen.
Hilfe durch Katholiken-Bashing
Nur vorübergehend, Anfang dieser Dekade, als man den sexuellen Missbrauch von Jungen gegen die katholische Kirche instrumentalisieren konnte, war das Thema im Gespräch. Allerdings war die Debatte von gewohnter Scheinheiligkeit; denn der Missbrauch durch Frauen wurde ebenso verschwiegen, wie der gewöhnliche Ort des Missbrauchs, die Familie. Es wurde geradeso getan, als sei die größte Gefahr für Jungen ein katholischer Priester. Überhaupt wurde, als 2010 der damalige Kollegdirektor Klaus Mertes den fortgesetzten Missbrauch am Berliner Canisius Kolleg öffentlich machte und damit die Missbrauchsdebatte anstieß, die Tatsache, dass hiervon fast ausschließlich Jungen betroffen waren, nicht sonderlich gewichtet. Ja, die Opfer verschwanden bei der öffentlichen Hatz auf Bischöfe und Priester, und nur wenige wagten es, sich als Missbauchsopfer zu outen.
Der einzig konkrete Lichtblick aus der öffentlichen Aufregung war, dass endlich im Rahmen des runden Tisches Forderungen nach einem ergänzenden Hilfesystem anerkannt wurden. So entstand der Fonds Sexueller Missbrauch. Inzwischen ist auch das Gespräch über den sexuellen Missbrauch in Institutionen wieder abgeebbt, eine Auseinandersetzung über den Missbrauch in Familien wurde ohnehin vermieden. Es sind weiterhin nur Frauen und Mädchen, bei denen sexuelle Gewalt thematisiert wird. Bei Jungen, so stellten ja schon in den 80er Jahren die Grünen fest, sei das nicht so schlimm (Bericht S. 85).
Wo Schweigen Strafe ist
Inzwischen werden die Leiden von Jungen und Männern überhaupt und speziell jene, die sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind, wieder in gewohnter Weise verschleiert. Ebenfalls dieser Tage wurde beispielsweise die Meldung verbreitet, dass etwa 10.000 „Flüchtlingskinder“ nach ihrer Ankunft in Europa spurlos verschwunden sind. Man vermutet, dass ein Großteil der „Kinder“ verschleppt und zur Prostitution gezwungen werden. Dass von diesen „Kindern“ 90 % Jungen sind, findet sich wenn überhaupt, nur in einem Nebensatz. Und als wenn man damit schon einen schweren Verstoß gegen das Schweigekartell verübte, wird dann im illustrierenden Fallbeispiel das Schicksal eines Flüchtlingsmädchens beschrieben, das man vor den Nachstellungen vermeintlicher Zuhälter beschützte (s. Welt).
Gewalt und sexueller Missbrauch gegen Jungen ist somit eine stabile Sphäre gewollten gesellschaftlichen Nichtwissens. Man will darüber nicht reden, weil es zum einen den Täterkreis um die Täterinnen erweiterte, und zum anderen Phantasmen männlicher Vorherrschaft obsolet machte. Würde nämlich dieses Nichtwissen zum Wissen werden, würde auch die für wenige Frauengruppen profitable Apartheid von Männern und Frauen fallen. Also verweigert man weiterhin das Gespräch und übt sich in Ignoranz, damit das Nichtwissen nicht zum Mokita wird; denn geschähe dies, wäre es ein Wissen, von dem jeder weiß, worüber aber man nicht spricht. Dies aber wäre ein erster Schritt für ein neues Miteinander der Geschlechter, bei dem jeder Missbrauch geahndet und jedem Opfer ausreichende Unterstützung widerführe, damit es überleben und seine Seele wiederbelebt werden kann.
Hat dies auf jungsundmaedchen rebloggt.
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Danke für den Eintrag. Leider werden die Jungs oft vergessen.
Da sind auch die Männer gefragt.
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Hat dies auf Das Leben – bunt wie ein Regenbogen rebloggt und kommentierte:
die Jungs werden häufig vergessen.
Das ist fatal, denn auch sie laufen Gefahr, zu Tätern zu werden.
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Großartig geschrieben. Wird auf Facebook geteilt.
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Ich glaube, wirklich schlimm an der Menschheit ist all das Trennen; das Unterscheiden und das Gruppieren.
So wertvoll – je nach Position – Kämpfe a la Alice Schwarzer, Vereinigungen gegen Gewalt und vieler anderer Gruppierungen und Kämpfer auch sein mögen
Am Ende trennen all diese Kämpfe die Menschen nur.
Einerseits sind die Errungenschaften des Feminismus gewiß wertvoll und wichtig. Es ist gut, dass Frauen Rechte haben.
Und doch trennt dieser Kampf die Frauen von den Männern.
Oft habe ich als Prostituierte völlig verstörte Männer bei mir sitzen gehabt.
Mißbrauchte, mißhandelte, seelisch verstümmelte, traurige und innerlich klitzekleine Männer voller Angst vor Frauen und dem Leben.
Dies waren – in meinen Augen – all die „Kollateralschäden; die Opfer die der Feminismus hinterläßt.
Und oft dachte ich, es sei wichtig, dass sich auch Männer emanzipieren können. Wikipedia sagt zu „Emanzipation“: Entwicklung, Stärkung und Ausdruck des ureigenen Selbst.
Würde die Menschheit nicht für einzelne Gruppen kämpfen, deren Kampf immer und sicher Verlierer schafft und hinterläßt – sondern stattdessen für mehr Achtsamkeit, Miteinander und Liebe
dann wären Männer und Frauen – und all die Menschen, die sich hierin nicht wieder finden – gleichermaßen includiert.
Es wäre ein „Kampf“ für alle.
Und vielleicht alleine hierdurch kein Kampf mehr, sondern ein miteinander Gehen.
Ein Wachsen, bei welchem jeder von jedem lernt.
Eine Entwicklung zum Miteinander, statt GEGEN.
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Ja, Luise, ich stimme Ihnen zu. Es geht wenn überhaupt um Menschenrechte und nicht speziell um Frauen- oder Männerrechte. Und dabei geht es vor allem darum, dass ein jeder ohne staatliche oder gruppenbezogene Bevormundung sein Leben so leben und gestalten kann, wie er es für sich für richtig hält. Selbstverständlich bedeutet die Anerkennung dieser Gestaltungsfreiheit, dass der Einzelne sein Leben auch aus eigenem Vermögen und eigener Kraft stemmt, und sich nicht für seine Eigenbrötelei von der Gemeinschaft finanzieren lässt, so wie dies heute in abertausend von Initiativen geschieht, die sich irgendwelchen Gruppeninteressen verschrieben haben und die vom Staat alimentiert werden, weil sie irgendein politisch korrektes Partei- oder Staatsziel verfolgen. Nur wenn diese institutionelle Freiheit wirklich praktiziert wird, wird unsere Gesellschaft wirklich bunt.
Gerade auf derlei Alimentationen zu verzichten, erfordert allerdings eine aufgeklärte Haltung und Disziplin. Ich weiß dies, aus der Szene der Selbsthilfegruppen, in die ich durch eigene Aktivitäten ein wenig eingebunden bin. Da wird von staatlicher Seite inzwischen mit viel Geld gelockt und man muss sich inzwischen dumm schimpfen lassen, wenn man auf diesen Geldsegen verzichtet. Doch ist es wie bei allem Geben und Nehmen: geschenkt wird einem nichts. Als Gegenleistung erwartet man, Anpassung und Unterordnung, sprich sich auch für fremde Ziele instrumentalisieren zu lassen. Damit entstand ein Helfergewerbe, das inzwischen sein eigentliches Klientel so weit aus den Augen verloren hat, dass ihm der Selbsterhalt wichtiger ist als die Menschen, für die man einst antrat, ihre Situation zu verbessern.
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