Coping – Meine Überlebenstechniken

Das Leben mit einer komplexen posttraumatischen Störung (kPTBS) ist nicht leicht, denn der Alltag bietet in seiner Gewöhnlichkeit unzählige Trigger, die Flashbacks bewirken, Dissoziationen auslösen oder mich in Angst und Panik versetzen; schließlich fand mein Missbrauch auch in einer – vermeintlich – ganz alltäglichen Umgebung und Atmosphäre statt.

Um nicht von jedem Trigger mitgerissen und in einen bedrohlichen Zustand versetzt zu werden, braucht es Fertigkeiten – auch Skills genannt -, durch die der Betroffene ein pathologisches Umkippen vermeiden oder mindern kann.

In den letzten fünf Jahren meiner PTBS übernahm und entwickelte ich eine Reihe von Fertigkeiten, die mich und meine Psyche schonen, so dass ich diversen Notwendigkeiten, wie beispielsweise mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, ohne allzu große Beeinträchtigungen nachkommen kann.

Andere, vielbekannte Skills, wie sichere Orte, Tresore oder Videos zu imaginieren, habe ich ausprobiert. Sie taugen mir nicht. Ich empfinde sie als Verdrängungen, und sie sind mir mit ihren Imaginationsphasen auch zu langwierig, beziehungsweise schweife ich während der Imagination zu schnell ab und laufe dabei Gefahr, zu dissoziieren. Ich benötige konkrete, handfeste Interventionen, um bei mir zu bleiben oder wieder zu mir zu kommen. Gummizwillen am Handgelenk, Stachelbälle und ähnliches sind für mich problematisch. Zum einen weil ich sie selbstverletzend missbrauchen könnte, zum anderen weil sie meine Druckurtikaria triggern und mich dann wieder dauerhaft bis aufs Blut kratzen lassen.

Nachstehend meine Skills, mit denen ich derzeit versuche, posttraumatische Reaktionen auf meinen Alltag, zu reduzieren oder zu vermeiden. Diese Liste werde ich weiter aktualisieren.

  • Vermeidungsverhalten

Grundsätzlich versuche ich, Situationen aus dem Weg zu gehen, die mich ängstigen oder in Disstress versetzen können. Oft ist ein Vermeidungsverhalten jedoch nicht möglich, zum Beispiel wenn ich ein Konzert besuche. Aufgrund meiner Agoraphobie würde ich am liebsten solche Termine absagen, doch ich würde mich dann auch einer Lebensqualität berauben und mich darüber wiederum als Versager fühlen. Also vermeide ich nicht, was sich nur schwer vermeiden ließe.

Ebenso vermeide ich es tunlichst, Berichte oder Dokumentationen über Missbrauch zu lesen oder anzuschauen. Manchmal ist das nicht möglich, dann sehe ich mir solche Dokumentationen zu zweit an und halte Augen und Ohren geschlossen, sobald triggernde Einspielungen kommen, und konzentriere mich nur auf die Fakten. Spielfilme und Bücher, in denen ein Missbrauchsgeschehen Teil des Plots ist, konsumiere ich grundsätzlich nicht.

  • Handschuhe

Ich bin im landläufigen Sinn arm und kann mir deshalb kein Auto leisten. Folglich fahre ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Dabei graut es mir, wenn ich Haltegriffe, Türen und Druckknöpfe anfassen muss. Ich empfinde derlei Hautkontakt, als würde ich direkt betatscht werden. Deshalb trage ich meistens Handschuhe, sobald ich das Haus verlasse. Im Winter ist das normal, im Sommer manchmal auffällig, da trage ich Glacéhandschuhe oder Autofahrer-Handschuhe. Außerdem trage ich auch im Sommer langärmelige Hemden, um nicht versehentlich im Gedränge Hautkontakt mit anderen Menschen zu bekommen.

Handschuhe trage ich auch in anderen öffentlichen Räumen, da ich mich scheue, Türklinken anzufassen.

Es ist naheliegend, wo ich direkten Körperkontakt mit Fremden oder mir wenig vertrauten Personen vermeide, dass ich auch ungern Hände schüttele. Wo es geht, unterlasse ich es mit einem freundlichen Hinweis auf meine Scheu.

  • Kleidung

Kleidung ist für mich auch ein „Panzer“, der mich abschirmt und separiert. Ich trage nur noch langärmelige Hemden, da die ich selbst zufällige Berührungen meiner Haut durch fremde Personen unerträglich finde und sich am Berührungspunkt sofort Quaddeln bilden. Auch achte ich auf elegante Kleidung, durch die ich mich von der allgemeinen Schäbigkeit abgrenze.  Deshalb trage ich schon seit Jahrzehnten keine Jeans und kurze Hosen – auch die kurze Lederne für viele Bayern ein muss -,  kommen für mich nicht infrage.

  • Sitzwärme

Was ich nicht ertrage ist Sitzwärme auf einem gerade verlassenen Sitzplatz. Es ist für mich wie eine intime Berührung, wenn ich die Sitzwärme einer anderen Person spüre. Deswegen setze ich mich nur auf Sitzplätze, von denen ich weiß, dass sie schon länger verlassen wurden und folglich abgekühlt sind. Geschieht es trotzdem, dass ich auf einem noch angewärmten Sitz zu sitzen komme, muss ich sofort aufstehen. Manchmal kann ich es umgehen, indem ich mich auf die Stuhlkante setze, die häufig nicht spürbar temperiert ist.

  • Düfte

Ich bin äußerst geruchsaffin. Gerüche können bei mir starke Trigger auslösen, sie vermögen es aber auch, mich zu beruhigen. Folglich besitze ich mehrere Parfümsorten. In öffentlichen Verkehrsmitteln helfen sie mir, die Ausdünstungen der Menschen um mich, die mich oft stressen, zu kompensieren. Ich rieche dann an meinen Handgelenken oder neige meinen Kopf, um etwas von meinem Parfüm zu erhaschen. Dann fühle ich mich sofort geerdet. Im Sommer trage ich in der Öffentlichkeit immer einen parfümierten Fächer mit mir. Außerdem stehen in meinem Büro mehrere kleine Schatullen mit einem Brocken Amberharz, an denen ich immer wieder einmal rieche, um mich zu harmonisieren und um meine Konzentration zu erhalten.

Erst im zwölften Jahr meiner kPTBS entdeckte ich zufällig einen Hinweis auf Lavendelöl, das gegen Albträume wirken soll. Ich probierte den Duft aus und in der Tat er wirkt. Seitdem tropfe ich vor dem Zubettgehen ein, zwei Tropfen auf beide Seiten des Kopfkissens. Die Albträume verschwinden deswegen nicht, doch sie haben nicht mehr die Intensität, die sie bislang hatten.

  • Riechsalz oder Ammoniakampullen

Für besonders krasse Fälle von Dissoziationen habe ich Ammoniakampullen. Die Ampullen sind in Gaze verpackt, so dass ich sie ohne Schnittverletzung aufbrechen kann. Der intensive, schwallartige Geruch von Ammoniak ist so scharf, dass ich augenblicklich in die Realität zurückfinde und wieder mit beiden Beinen auf dem Boden stehe. Manchmal muss ich noch mehrmals an der aufgebrochenen Ampulle riechen, um ein erneutes Abgleiten zu verhindern. Auch bei heftigem Disstress greife ich gelegentlich zu einer Ammoniakampulle, um mich wieder sammeln zu können.

Die mildere Alternative zur Ammoniakampulle ist Riechsalz. Wenn ich außer Haus gehe, trage ich meistens ein Fläschchen mit Riechsalz mit mir. Das Riechsalz basiert ebenfalls auf Ammoniak. Triggert mich etwas in der Öffentlichkeit kann ich den Trigger oft niederhalten, indem ich kurz das Fläschchen aufschraube und eine Prise Riechsalz einatme. Danach bin ich dann meist wieder für neue nicht triggernde Eindrücke offen.

  • Schlaftee

Die Albträume werden auch weniger, wenn ich kurz vor dem Schlafengehen eine Tasse Schlaftee trinke. Es ist ein Schlaftee aus dem Drogeriemarkt mit Baldrian und Hopfen.

  • Chia-Samen

Ich leide neben einer chronischen Urtikaria durch den posttraumatischen Stress auch an zuviel Magensäure. Die in der Speiseröhre aufsteigenden „Dämpfe“ bewirken – solange ich wach bin – einen steten Hustenreiz, neben einem Medikament kaue ich auch bei Bedarf mehrmals am Tag einen Teelöffel voll Chia-Samen. Ich kaue ihn solange, bis ich ihn gut eingespeichelt habe und schlucke ihn dann. Der Reflux hält sich dann in Grenzen und ich muss das Medikament nicht erhöhen.

  • Affektives Lauten

Es ist ein von mir selbst geprägter Begriff, um ein spezielles Verhalten von mir zu bezeichnen. Wenn ich unter Spannung stehe, aufgeregt oder erschrocken bin, oder gerade durch ein Flashback aus der Bahn geworfen wurde, oder mich Intrusionen plagen und einschränken, dann beginne ich, Laute zu formen, mit denen ich meine Affekte ausdrücke und gleichzeitig ableite und minimiere, damit ich nicht an unaussprechlichen Gefühlswallungen ersticke oder platze oder auf selbstverletzenden Verhalten umschwenke, wie mich zu schlagen oder blutig zu kratzen. Das Lauten ist meistens ein sinnloses Worten, das sich an keiner Sprache anlehnt. Gelegentlich kommen verständliche Wortbrocken hinzu. Insgesamt klingt das Lauten recht infantil, wie bei einem Kind, das gerade das Sprechen lernt.

Das affektive Lauten hilft mir sehr, um wieder ein emotional ausgeglichenes Level zu erreichen. Mit ihm kann ich auch Flashbacks ausbremsen und ihnen den Impetus nehmen, so dass es nicht zu einer dauerhaften Befeuerung mit Schreckensbildern kommt. Die Spannweite des affektiven Lautens umfasst alle Gefühlslagen.

  • Singen

In milderen Fällen von seelischem Unwohlsein beginne ich zu singen. Mal sind es bekannte Lieder mal, mal spontane Fantasien, die mein Gemüt klären und meine Stimmung ausgleichen.

  • Tanzen

Tanzschritte zu üben, zählt für mich ebenfalls zu den milderen Fertigkeiten, mich bei schlechter Stimmung zu stabilisieren. Sie helfen mir vor allem, triste Phasen zu überwinden.

  • Teddy

Meine Teddybären helfen mir dabei, meine Sorgen und Befürchtungen in kurzen Rollenspielen zu verbalisieren und Lösungsansätze zu variieren. Sie sind mir auch Tröster und Objekte der Fürsorge, denn in einem kleinen Teddy sehe ich mein kindliches Alter Ego. Der kleine Teddy und der blaue Teddy begleiten mich auch häufig zur Therapiestunde. Dort sind sie Momente, die mich festhalten, erden, trösten und beruhigen und so vor heftigeren Dissoziationen bewahren.

  • Tintenzauber

Einen Tropfen Tinte in ein Glas Wasser gegeben wurde für mich zum unerlässliches Ritual, um mich zur Therapiestunde zu entspannen und meine Stimme zu finden. Bevor ich das Ritual noch nicht gefunden hatte, dauerte es meist bis zu einer viertel Stunde, ehe ich überhaupt imstande war, ein Therapiegespräch zu beginnen. Es handelt sich dabei um eine Form von Mutismus, die mich hindert, über mich sprechen zu können, da ich mich als Gegenstand des Gesprächs nur schwer begreife und erst mühsam zusammenklauben muss.

  • Schwimmen

Nachdem mein Tanztraining schwieriger geworden war, weil ich durch Dissoziation während den Übungen zu oft absent war, habe ich mich dem Schwimmen zugewandt. Ich schwimme in einem Verein, und lerne dort das sportliche Schwimmen; auch wenn ich an keinen Wettbewerben teilnehme. Das Schwimmen hat für mich einen entspannenden beinahe meditativen Charakter. Denn wenn ich meine Bahnen ziehe, wird der Kopf leer, und ich achte nur noch auf meine Bewegung, meinen Atem und die Berührung durch das Wasser. Nach einer Stunde fühle ich mich sehr wohl; beinahe so, als bildeten meine Seele und Körper eine Einheit. Gerade an Tagen, an denen ich stärker dissoziiere oder mich Flashbacks plagen, sehne ich mich nach dem abendlichen Schwimmtraining.

  • Gruppenbesuche

Ich besuche regelmäßig – wenigstens einmal die Woche – Sucht-Selbsthilfegruppen. Diese Besuche sind für mich wichtig, um meine Suchterkrankung nicht zu vergessen und sauber zu bleiben. Hierdurch schaffe ich mir ein Polster, um der Versuchung, zum Stoff zu greifen, zu widerstehen. Gleichzeitig kann ich auch meine aktuellen Sorgen und Probleme ansprechen. Ebenso höre ich von den Lebensschwierigkeiten anderer Gruppenteilnehmer und kann aus ihrer Art, damit umzugehen, lernen. Die Gruppenbesuche sind für mich ein starker Anker, um insgesamt stabil zu bleiben und nicht in mich gefährdende Zusammenhänge abzugleiten.

  • Diskrimination

Der Begriff meint, das Anderssein beachten. Diskrimination hilft mir, wenn ich merke, dass Meins von der Vergangenheit gekapert wird und Intrusionen – die Grübeleien über den Missbrauch – meinen Raum füllen. Dann versuche ich mich auf mich zu besinnen, indem ich mir vergegenwärtige, dass ich heute ein älterer Herr und kein Kind oder Bursche mehr bin. Ich schaue auf meine Füße, Schuhgröße, auf meinen Bauch, meine Hände und sehe, das ist jetzt Meins. Dann kann ich mich auf den gegenwärtigen Raum besinnen und erkenne mich im Hier und Jetzt. Ich spreche dann hörbar mit Meins, indem ich ihm erzähle, was ich gerade mache, was ich empfinde. Wichtig ist, dass ich den gegenwärtigen Raum erfasse, indem ich ihn beschreibe, begehe, erschnüffle oder ertaste. Diese sinnliche Vergegenwärtigung löst Meins aus der Intrusion und öffnet ihm wieder seinen Raum. – So jedenfalls die Absicht. Manchmal ist diese Diskrimination sehr anstrengend.

  • Gegenwartsverankerung

Häufiger erfassen mich Dissoziationen, die mich aus dem Hier und Jetzt gleiten lassen und mich in eine andere Welt ziehen. Ich bin dann nicht mehr bei mir und für meine Umgebung unempfindsam; das Zeitgefühl verliert sich, bestenfalls mache ich routinierte Tätigkeiten, schlechtenfalls mache ich gar nichts, sondern starre nur unbeweglich; schlimmstenfalls mache ich seltsame Sachen und finde erst nach Tagen wieder zu mir. In dieser Zeit erscheine bin für meine Mitwelt gottlob unauffällig.

Am besten ist es für mich deshalb, Dissoziationen grundsätzlich zu vermeiden und Anker im Hier und Jetzt zu finden. Als erstes besinne ich mich auf Haltung, stehe oder sitze aufrecht; hebe das Kinn an. Suche in meinem Blickfeld drei Dinge, die die gleichen Merkmale haben, die gleiche Farbe oder Form; wiederhole dies mit verschiedenen Aufgaben und suche dabei die Merkmale möglichst in meinem gehobenen Blickfeld, so dass ich nicht auf den Boden blicke und dadurch meine Haltung verliere.

Weitere Verankerungen sind drei Dinge im Raum, die ich jedesmal, sobald sich eine Dissoziation ankündigt, fixiere. Es sollten dann immer die gleiche Blickpunkte sein.

Hilfreich ist auch eine sensorische Verankerung,  indem ich darauf achte, was meine Füße spüren, mein Hintern, meine Hände, meinen Atem, die Geräusche und Gerüche um mich wahrnehmen. Hierdurch bleibe ich bei mir und finde in den Raum zurück. Der Trigger, der mich dissoziieren ließ, verliert sich daraufhin. – Viele Trigger sind unbewusst, weshalb es sich nicht lohnt, ihnen im Zustand der Gefährdung nachzuspüren, ich würde mich nur dabei erneut verlieren; das kann ich zu einem späteren Zeitpunkt aufgreifen.