Narzisstische Menschen sind mit sich meist so zufrieden, dass sie, obgleich sie ihre Mitmenschen seelisch vergiften, aussaugen und zerstören, nur selten selbstkritisch sind oder gar eine Psychotherapie aufnehmen, um für ihre Mitwelt erträgliche Gefährten zu werden. Kinder von Narzissten haben ein schweres Los. Sie reiben sich an dem narzisstischen Elternteil auf, dem sie niemals genügen werden; denn sie sind nicht für sich auf der Welt, sondern um die überhöhten emotionalen Ansprüche des Elternteils zu befriedigen. Für diese privilegierte Position schulden sie ihm allerdings auf Lebenszeit Dankbarkeit.
Meine Frau war durch ihre narzisstische Mutter einem fortwährenden emotionalen Missbrauch ausgesetzt, bis es ihr vor neun Jahren gelang, den Kontakt zu ihr abzubrechen. Dem voraus ging der Tod ihres Vaters, dessen Sterben von bizarren narzisstischen Ausbrüchen der Mutter begleitet worden war. Danach kam es zu einem Streit über die Hinterlassenschaft, bei der meine Frau nur ihren Pflichtteil einforderte. Zwei Rechtsanwälte verschliss die Mutter dabei. Dann war das Tischtuch endgültig zerschnitten.
Die Mutter wird im kommenden Sommer 90 Jahre alt. Seit etwa drei Jahren versucht sie Kontakt zu ihrer Tochter aufzunehmen. Es waren so erkennbar selbstgefällige und selbstgerechte Versuche, die es meiner Frau bislang leicht gemacht hatten, nicht erneut darauf hereinzufallen. Zuletzt übergab die Mutter vor drei Monaten durch unseren Sohn ein Okatvheft, in dem sie auf wenigen Seiten die ersten zwei Jahre der Entwicklung ihrer Tochter festhielt. Es sollte wohl ein Tagebuch der Großartigkeit von Mutter und Tochter und der Entwicklung eines Genies werden. Doch die Tochter entwickelte sich nicht wunschgerecht, sondern reagierte wie ein ganz normales Kind auf die anhaltende Deprivation, der sie durch ihre Mutter ausgesetzt war.
Jedenfalls bemerkte die Mutter nicht, dass sie in der Preisgabe des Tagebuches, auch ihren Kindsmissbrauch belegte. Denn das Tagebuch ist sowohl ein Dokument der Vernachlässigung ihrer Tochter, als auch ihrer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Hierfür brauchte sie auch nicht viele Seiten. Vierzehn großzügig beschriebene Seiten genügten ihr, um ihr Unglück über ihre Tochter zu beklagen.
Einen Auszug mit relevanten Daten aus dem Tagebuch können Sie weiter unten lesen. Er umfasst etwa zwei Drittel des gesamten Textes. Mich beschäftigte, nachdem ich die Aufzeichnung gelesen hatte, vor allem die Frage, was im Kopf einer Mutter vor sich geht, wenn sie ein solches Dokument aus der Hand gibt; schließlich wird man hier mit der durch sie bewirkten Deprivation ihrer Tochter konfrontiert. Jedenfalls ist die Mutter, wie unser Sohn glaubhaft versichert, noch bei Verstand; nur eben erkennbar nicht bei Trost.
Eine alte Lehrerin meiner Frau, die wir regelmäßig besuchen und der die Mutter in ihrer Verstelltheit noch gut in Erinnerung ist, meinte: Sie wollte Ruth am Ende der erstorbenen Kommunikation noch einmal zeigen, was für ein böses Kind sie von Anfang an gewesen sei, und wie recht sie in ihrer Einschätzung stets gehabt hätte.
Nun gut, eine Mutter, die nicht erkennt, wenn ihr Kleinkind Zeit genug hatte, mit seinem Stuhl zu spielen, ihn zu kosten und seinen Teddybären mit dem Kopf ins Töpfchen zu tunken, das zudem genügend lange unbeaufsichtigt blieb, um eine halbe Flasche Niveaöl zu trinken und sich eine halbe Tube Zahnpasta ins Gesicht zu schmieren, dass dies Zeichen einer anhaltenden Vernachlässigung sind, die wird auch sechzig Jahre danach nur sich selbst bedauern, mit welch einem schlechten Kind sie gestraft worden ist.
Ich werde diesen Bericht auch durch spätere Begebenheiten fortsetzen, die zeigen, wie in biederen Haushalten Kinder vernachlässigt, gequält und missbraucht werden. Die Mutter von Ruth war und ist eine nach außen hin gut situierte, umgängliche und gebildete Frau, der man solche Schändlichkeiten und eine derartige Empathielosigkeit keinesfalls zutrauen würde. Dementsprechend vermag sie die Illusion dafür, welch arme Frau sie ist, in dem Nobelaltenheim, in dem sie seit dem Tod ihres Mannes lebt, tagtäglich durch die Abwesenheit ihres einzigen Kindes vorzuleben. Denn auch hier gibt es genügend Leute, die nicht nach dem Warum fragen, sondern das narzisstisches Wohlbefinden der Mutter durch Trost und ihr Bedauern bestärken. So zieht die Mutter noch im hohen Alter Nektar aus ihrer Schändlichkeit.
Nachtrag
Dieser Tage erzählte unsere Schwiegertochter, dass sie jüngst bei einem Besuch bei der Mutter auf das Thema zu sprechen kam. Die Mutter meinte, dass sie mit der Übergabe des Tagesbuches der Tochter zeigen wollte, was für eine besondere Bedeutung sie als ihr Wunschkind von Anfang an für sie hatte, um so an die alten guten Bande zwischen ihnen zu erinnern.
Ja so sieht die Wahrnehmung unter narzisstischer Verblendung aus, dass sie die wütende und enttäuschte Konnotatition in ihren eigenen Worten auch nach 60 Jahren noch nicht zu erkennen vermag. Die Tochter beleidigte ihre Mutter durch ihre eigenartigen Reaktionen auf die erlittene Deprivation. Und wüsste die Mutter jetzt, wie die Tochter das Tagebuch auffasste, dann wäre sie ein weiteres Mal wütend und enttäuscht über die seltsame Reaktion. – Narzissmus scheint wohl unheilbar zu sein!
Hier der Auszug aus dem Tagebuch; die Tochter kam im Juni 1952 zur Welt.
Ruth ist ein immer fröhliches Baby. Sie liegt allein im Zimmer in ihrem Babykörbchen und kräht lustig vor sich hin.
Am 16. 6. 53 eine halbe Flasche Niveaöl ausgetrunken. Hat bestens geschmeckt und war ohne Folgen.
Mit 13 Monaten vom Topfinhalt genascht. Guten Appetit!
Mit 15 Monaten: große Bescherung auf dem Boden. Das ganze Zimmer damit verschmiert.
Weiß genau, wofür der Topf da ist. Sagt aber erst, wenn die Hose voll ist: Aa.
Weihnachten 1953: Hauptinteresse ein kleiner Stoffhund und neue Schuhe, Puppenbett mit Püppchen. Christbaum wird wenig beachtet. … Bei Musik dreht sie sich im Kreis und singt: la la la. An Weihnachten durch vielen Besuch sehr übersteigert, fühlt sich als Mittelpunkt und gibt sich wie eine Alte. Los der einzigen Kinder!
Sie spielt stundenlang, wenn sie allein im Zimmer ist. Wenn wer da ist, muß man sich mit ihr abgeben. Deutliche Abneigung gegen den Laufstall. Wenn sie rausgenommen wird, will sie nicht mehr hinein. Geht nie ohne lautes Gebrüll ab.
15. 1. 54: Endlich geht sie aufs Töpfchen!
Zurzeit sehr eigensinnig. Weint bei jeder Gelegenheit und ist sehr störrisch.
Mutti wird zum ersten Mal wegen ihrer Tochter rot. Im Wartezimmer von Dr. R. lässt sie einen lauten Puh. Freut sich sehr darüber und geht zu jeden hin mit der Bemerkung: Puh, Popo, Puh, Popo und klopft sich auf ihren Allerwertesten. Alles lacht!
2 Jahre: Ruth war 4 Wochen bei Oma. Wir schlichen uns leise bei der Abfahrt während ihres Mittagsschlafes weg. War laut Oma aber gar nicht nötig: Beim Erwachen fragte sie nur: „Mami, Papi weg? Kommen wieder.“ Hat sich sehr an ihre Oma gewöhnt und war schön braungebrannt von der guten Ammerseeluft. – Als sie wieder heimkam, suchte sie die Oma in der ganzen Wohnung. Dann sagte sie: „Oma? Ist das möglich.“ Übrigens ein neuer Ausdruck, den sie sehr oft gebraucht.
Läßt sich, seitdem sie bei der Oma war, nicht mehr baden. Brüllt wie am Messer, wenn man sie in die Wanne setzt. Beim Kopfwaschen hat sie direkt Todesangst und zittert am ganzen Körper. Was ist passiert? Von Oma ist die Wahrheit nicht zu erfahren. Langsam gewöhnt sie sich wieder an die Waschschüssel, aber das wöchentliche Bad ist immer noch ein Problem.
Fängt nun schön langsam zu spielen an und hängt nicht immer an meinem Rockzipfel. War bisher furchtbar! Ich konnte keine Minute aus dem Zimmer, sie musste überall mit hin.
Es fehlen immer noch die 4 Backenzähne. Deshalb öfters zu mauhig und böse? Auch nachts gibt sie oft lange keine Ruhe. Muß oft sechsmal und mehr aufstehen und nach ihr schauen. Großes Theater auch beim Zubettgehen. Immer wieder sagt sie Aa und wisi wisi. Setzt man sie auf den Topf, macht sie nichts, sondern fängt zu spielen an. Legt man sie darauf wieder hin: „Weltuntergang.“
Bei der geringsten Verkühlung ist es das alte Lied. Ich muß aber keine Windeln mehr waschen!
Jeden Tag neue komische Begebenheiten. Sie schmierte sich eines Tages eine halbe Tube Zahnpasta ins Gesicht und schrie dann: „Augi weh weh.“
Von Tante Lotte bekam sie einen schönen neuen Steiff Teddybären. Den alten wollte sie daraufhin nicht einmal mehr eine Minute zum fotografieren in den Arm nehmen. Ich habe ihn gleich verbrannt, nachdem er öfters eine Kopfwäsche im Nachttopf über sich ergehen lassen mußte und deswegen nicht mehr sehr hygienisch war.