Ein guter Freund aus den Suchtgruppen, der als Junge von seiner Mutter sexuell missbraucht wurde, hatte Anfang März seinen Antrag auf Hilfe beim Fonds Sexueller Missbrauch gestellt. Die Kostenübernahme für seine Therapie läuft demnächst aus. Ende April erhielt er Nachricht vom Fonds, dass sein Antrag angekommen sei und er sich etwa 12 Monate gedulden müsse, bis sein Antrag bearbeitet werden könne. Die Bearbeitungsfrist selbst wird dann noch einige Monate dauern. Derzeit vergehen von der Antragstellung bis zum Entscheid etwa eineinhalb Jahre. In diesen 18 Monaten bleibt ihm allenfalls eine Konsultationsstunde bei seiner bisherigen Therapeutin pro Monat. Das bedeutet praktisch, seine Therapie wird eingefroren, bis der Fonds Sexueller Missbrauch endgültig entscheidet. Denn mit einer Stunde pro Monat ist keine Therapie mehr möglich.
Ich gehe gerade selbst durch eine solche Konsultationsphase, da ich auf der Suche nach einem Kassentherapeuten bin, der mich nach bereits erfolgten 200 Stunden Therapie weiter betreuen möchte. Besäße meine jetzige, vom Fonds Sexueller Missbrauch bezahlte, Therapeutin eine Kassenzulassung, könnte sie mich weiter behandeln. So aber suche ich einen Kassentherapeuten. Finde ich einen, kann ich mit weiteren 80 bis maximal 100 Stunden rechnen.
Die Konsultationsphase empfinde ich als eine sehr schwierige Zeit, denn meine PTBS wird gewissermaßen warm gehalten, während meine Seele gekühlt wird, so dass sich mein ganzes System bis zu einer nächsten Behandlung nicht auflöst oder gar zusammenbricht. Im Alltag erlebe ich daher immer längere dissoziative und dysthyme Zustände. Meine Gemütszustand ist somit weder Fisch noch Fleisch. Hinzu kommen die ganz normalen Beeinträchtigungen durch die PTBS wie Flashbacks, Albträume und Intrusionen. Weiters entsteht eine zunehmende Labilität, da durch die Verunsicherung, wie der therapeutische Weg weitergehen mag, Angst, Schreckhaftigkeit und diverse Phobien sich allmählich wieder verstärken. Es ist also eine neue schreckliche Zeit, in der ich stecke und die auch auf meinen Freund zukommen wird. So lernt man sein Leid in seiner Tiefe zu ermessen, den Schaden, den der Missbrauch angerichtet hat, zu überblicken und die Qual wochenlanger Hilflosigkeit zu erdulden. Die einst gedemütigten Opfer lernen somit die Tugend der Demut. Und sobald sie diese ganz verinnerlicht haben, können sie sich in der Kunst der Demut üben.
Dass das ein untragbarer Zustand ist erfasste auch ganz ohne Ironie der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauchs (UBSKM), Johannes-Wilhelm Rörig, indem er in seiner Pressemitteilung vom 29. 3. 2016 feststellen lässt: Rörig fordert außerdem verbesserte Verwaltungsabläufe und Informationen für Betroffene: „Aktuell gibt es einen Bearbeitungsstau von über einem Jahr! Betroffenen wurden von den Mitgliedern des Runden Tisches und der damaligen Bundesregierung schnelle und unbürokratische Hilfen versprochen. Tatsache ist aber, dass Betroffene, die zum Beispiel dringend therapeutische Hilfe benötigen, im Schnitt ein Jahr auf eine Rückmeldung warten. Das ist eine Missachtung der berechtigten Interessen von Betroffenen!“
Nun ist der UBSKM Rörig allerdings auch sein eigener Herr im Haus und sollte alles daransetzen, dass den posttraumatisierten Opfern sexueller Gewalt in der Kindheit zu einer zeitnahen Fortsetzung ihrer Therapie verholfen wird. Denn diesen ist nicht geholfen, wenn sie wissen, dass der UBSKM im Gegenzug zu ihren Übungen in Demut sich in Geduld übt. Doch ich zweifle, dass es ihm gelingen wird. Es ist ihm zwar einiges gelungen, doch hier scheint er an der Macht des Faktischen, der Personalnot, zu scheitern. Folgerichtig wage ich auch die Prognose, dass es der Arbeitsministerin in dieser Legislaturperiode nicht, wie zugesagt, gelingen wird, das Opferentschädigungsgesetz so zu reformieren, dass für Posttraumatisierte eine kontinuierliche Therapie möglich wird.
In diesem Zusammenhang komme wieder ich auf die 200 absolvierten Therapiestunden zu sprechen, die manche Psychologen so sehr irritierte, dass sie meine mögliche Behandlung nach spätestens zwei probatorischen Stunden abgelehnt hatten. Offensichtlich hatten sie durch die Abrechnungsbeschränkung der Krankenkasse verinnerlicht, dass eine Traumatherapie maximal in zweimal 80 Stunden beendet sein müsste, und für sich dementsprechende Behandlungskonzepte erstellt. Danach wissen sie dann mit einem Klienten wie mich, der nach dieser Zeit noch immer nicht auf dem Damm ist, nichts anzufangen. – Nur ist es so, dass ich die ersten drei Dekaden meines Lebens tagtäglich traumatisiert wurde. Die ersten zwei Dekaden durch körperliche Misshandlung und sexuellen Missbrauch durch die Eltern, dazu noch die nachhaltige Deprivation im Kinderheim. In der dritten Dekade setzte ich die Traumatisierung durch meinen massiven Drogenkonsum als Täter gegen mich fort. Das sind 30 Jahre Traumaerfahrung, die sich aktuell in meinem Posttrauma verdichten … Und die sollen nach 200 Stunden in fünf Jahren Therapie erledigt sein?
Nein, ich denke, die Traumatherapeuten müssen sich von den Vorgaben eines Abrechnungsmodus lösen und statt der Kassenauflagen ihre Patienten ins Auge fassen. Rücken sie ihn in den Mittelpunkt ihrer Behandlung, dann dürfte ihnen die Forderung nach einer speziellen Traumatherapie für Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte von frühester Kindheit an durch Folter und Gewalt traumatisiert wurden, ein selbstverständliches Anliegen werden. Dass diese Forderung derzeit allerdings überwiegend von den Opfern erhoben wird, weist andererseits, auf die Psychologen zurück.
Entweder sind sie, außer in Traumaambulanzen, zu selten mit komplex posttraumatisierten Patienten konfrontiert, oder sie sind untereinander durch die verschiedenen Schulen und Ausrichtungen so zerstritten, dass sie sich nicht auf ein gemeinsames, grundlegendes Konzept einigen können; schließlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass viele Therapeuten versuchen, eine speziell von ihnen entwickelte Therapiemethode auf dem Therapiemarkt zu etablieren. Die Krönung solcher Versuche ist neben der internationalen Reputation letztlich die Anerkennung als abrechenbare Heilmethode durch die deutschen Krankenkassen. Oder aber sie haben als dritte Möglichkeit schlicht und einfach vor dem System resigniert und versuchen, wie an so vielen prekären Stellen in der planwirtschaftlichen Medizin, einen hinlänglichen Job zu machen.
Ein beachtlicher Teil der Psychologen hat deswegen auch kein Interesse mehr an einer Kassenzulassung. Womit allerdings weniger begüterte Patienten – und das sind leider überdurchschnittlich häufig Posttraumatisierte – von einer qualifizierten Therapie ausgeschlossen werden.
Ich kenne auch mehr Therapeuten, die auf eine Kassenzulassung verzichten.
Meine jetzige Thera hat auch keine, aber sie bietet, wie einige ihrer KollegInnen auch, eine gute Art der Zahlung an, sie nehmen 2,5% vom jeweiligen Einkommen, das kann sich jeder leisten, denke ich. Es lohnt sich, mal nachzufragen.
‚Es ist lächerlich, dass die Kassen nur so wenig Stunden zahlen, das reicht nie und nimmer aus.
Ich selbst bin seit über zwanzig Jahren in einer Traumatherapie, zahle immer selbst, und ich glaube, dass ich Therapie weiterhin brauchen werde. die Alternative wären Psychopharmaka, die ich aber vehement ablehne und bisher auch immer verweigert habe.
Lieber einmal in der Woche oder alle zwei Wochen zur Therapie, das hilft besser, denke ich.
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Danke, für Ihre Gedanken. Ich nehme ebenfalls keine Psychopharmaka, schon bedingt durch meine Drogenkarriere. Allerdings behalte ich mir die Option für den Notfall offen, da es manchmal Situationen gibt, in denen ich meine, verrückt zu werden. So zum Beispiel Stimmenhören, Halluzinationen oder auch Phasen tiefer Traurigkeit mit suizidalen Momenten. Gottlob bin ich jedoch im Grunde ein lebensfroher und mutiger Mensch, so dass ich auch in elenden Gemütslagen nicht verzage, sondern auf meine spirituelle Führung vertraue. Dann kann ich auch die notwendige therapeutische Führung erkennen und hier die lebenspraktischen Hilfen annehmen.
Was die Bezahlung angeht, so könnte ich mich mit der jetzigen Therapeutin arrangieren und in Naturalien, sprich in Bildern, bezahlen. Nur bin ich mir hier noch nicht ganz sicher, ob ich mich darauf einlassen soll. Geldleistungen sind halt nach wie vor das nachvollziehbarere Tauschmittel für beide Seiten.
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Warum nicht mal auf das Angebot mit den Bildern annehmen?
Oder die Bilder, z.b. für die Praxis, gegen Geld für eine Weile zur Verfügung stellen, so wie es manche Ärzte oder Zahnärzte oder Cafés auch öfter machen.
Ich brauche manchmal auch Valium, ganz dringend wenn ich zum Zahnarzt muss, sonst würde ich durchdrehen. Aber das ist nur für einen Tag, das kann man vertreten. Gut ist, wenn man es bewusst einsetzt, das ist die halbe Miete, denke ich.
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