Zweimal musste ich heute das Riechfläschchen in der Stadt aufschrauben und tief inhalieren, damit ich nicht in der Dissoziation entschwinde beziehungsweise die aufkommenden Bilder mich nicht aus mir selbst drängen.
Das erste Mal war in der Straßenbahn, eine Adipöse, der die von Platznarben übersäte Bauchschwarte unter dem zu knappen Leibchen heraushing. Ich sah die braungraue Haut – sie war Mulattin -, und die Panik stieg in mir auf, ich fühlte mich angegriffen.
Das nächste Mal triggerte mich eine Dralle in peinlicher Short. Ihre blanken, feisten Schenkel rieben sich aneinander und man konnte die dunkel verfärbte, gereizte Haut erkennen, die nah am Schritt zwei großflächige Male gebildet hatte. Es war unterirdisch, doch ich wandte mich ab, erwähnte die Sicht Ruth gegenüber und erklärte mir einmal mehr, dass diese Erscheinung sich nicht wegen mir vor mir durch die Straßen bewegte. Doch schon ums Eck auf den Jakobsplatz zugehend, sprang mich ein weiterer Trigger an. Es war nur ein kurzer Blick, als wir an den Wirtstischen vorbeigingen. Eigentlich überhaupt kein Blick, ich sah nur flüchtig über die Leute, die da saßen. Doch ein Detail löste sich aus dem Bild, und als ich schon wieder weiter und die Perspektive längst eine andere war, sah ich, was ich zuvor nicht wahrgenommen hatte, den tiefen Blick unter den Rock in den Schritt einer – auch diesmal wieder – fülligen Frau. Es war die gefürchtete Kittelschürzenperspektive meiner Kindheit.
Damals trugen viele Frauen vorne knöpfbare Kittelschürzen. Unter den Kittelschürzen trugen viele nur Leibwäsche. Der Bequemlichkeit halber knöpften sie auch die unteren Knöpfe des Kittels nicht zu, damit sie sich bei der Hausarbeit bücken konnten, ohne dass durch die Spannung des Stoffes Knöpfe abgesprengt wurden. So saßen sie dann öfters auf einem Hocker und werkten mit offenen Beinen. Die Perspektive eines Knirpses war hier suboptimal. Denn man sah ihnen, ohne es zu wollen, direkt unter die Schürze, und der sich bietende Anblick war atemberaubend schrecklich. Aus diesem Blickwinkel wirkt ein mit Strapsen gehaltener dunkler Nylonstrumpf wie eine Drohung, und der in der Tiefe des Schoßes, die unbestrumpfte Schenkelhaut begrenzende, sichtbare Schlüpfer mit seitlichen Buschen, wie ein Schreckteufel. So etwas will Kind nicht sehen und weiß es auch nicht, zu deuten; das sind erwachsene Verwachsungen, in die man nie hineinwachsen möchte.
Ja, und als das Gesehene als Flashback in mir aufleuchtete und den kindlichen Schrecken wiederbelebte, da griff ich ein zweites Mal zum Riechfläschchen, um nicht in einem dissoziativen Stupor verfallend nach Hause tappen zu müssen.
Heute fand ich eine Notiz in meinem Kalender vom 13. September 1999, die den Augenblick beschreibt, wo der erste Aufzug im posttraumatischen Theater von Meins begann:
„Albtraum vom verbotenen Raum, der mich anzieht, den ich abwehren möchte, und der mich trotzdem schluckt und ins Grauen zerrt. Diesmal ein Raum neben mir und Ruth. Wohl auch Assoziation aus dem Liebesspiel der Nacht. Ich mache dem Androiden, der ihn dieses Mal beherrscht – mithin das erste Mal, denke ich, ist das Grauen ergänzend personalisiert ‑, Komplimente, um ihn zu beruhigen. Dann entdecke ich den Durchlass, durch den er uns/mich bedrohen wird. Er kokettiert vor mir böse, und ich sage, da der Traum in Texas spielt: ‚Mother, go. I’m the mother of myself.‘ Ich wache auf und entdecke den Inzest in dem Traum als klandestinen Schlüssel. Das Tabu ist der Alb, das Grauen.“
Und acht Tage später am 21. September schreibe ich:
„Der Albtraum kommt wieder. Ich bin in ihm betrunken. Will Freunde bewirten und bin auf der Suche nach einer Bleibe. Eine Metapher, die sich in anderen Träumen oft wiederholt. Die Mutter kommt an – sie hat die bösen verschlingenden Augen -, ist betrunken, streitet. Ich bleibe unbeteiligt. Als sie mich in ihren Zoff einbeziehen will, spucke ich ihr ins Gesicht. Gehe zurück in den hallenartigen Raum. Leisten liegen am Boden. Hier ist das Grauen. Ich beginne den Exorzismus. Werde blind dabei. Führe ihn dennoch aus. Bezwinge das Grauen fast. Ruhe kehrt ein. Ruth weckt mich aus dem Alb. Die Szene mit der Mutter hätte ich wachend beinahe wieder gesehen.“