Vor gut drei Wochen wurde ich von einem Beauftragten der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK), ich nenne ihn Dr. Schobel, angeschrieben. Seitdem war ich oberflächlich entspannt wie je und nimmer, soll heißen ich bemerkte keine verstärkte Spannung an und in mir. Dennoch wirkte unter meiner seelischen Oberfläche der Disstress vor diesem Ereignis.
Wäre ja auch ein Wunder, würde daraufhin nicht der Herpes wieder beginnen, sich in mir zu regen. Ich nehme Tabletten, um einer Bläschenbildung vorzubeugen. Es ist ein tiefgründiges leises Beben, das mich erschüttert. Mich drückt die Last, erneut meine Geschichte erzählen zu müssen, diesmal jedoch nicht wie in einer probatorischen Stunde mit Hinweis auf das Datenblatt meines erlittenen Schreckens abwälzend, sondern hörbar, verständlich und über den gesamten Zeitraum meiner ersten zwanzig Jahre in dieser verdorbenen Welt, der Welt der Kinderschänder, Kindsmisshandler, der vergewaltigenden Mütter, Väter und Frauen. Sie waren es, die mich konditioniert und zum Opfer gemacht hatten, das wiederum von anderen Tätern (m/w) gewittert wurde, welche sich an ihm reiben wollten.
Und wann immer mich das Phantasma des Schreckens ereilte, getriggert durch Auslöser, die ich noch nicht erkennen konnte, weil ich das, was an mir verbrochen worden war, weder begreifen noch zu erfassen vermochte, und es mich deshalb nach Nachinszenierungen verlangte, um zu bewältigen, was ich im Unverstand nicht bewältigen konnte, ahnten hinzugekommene Täter ihre Chance, mich wieder in den Sumpf zu ziehen und zu beschmutzen. Weitere zehn Jahre wurzelte ich so im Drogensumpf, die Gewalt des Missbrauchs in mir verkapselt und nach Vergessen, Auflösung und Dunkelheit suchend, um dem Irrsinn meiner Schändung endgültig zu entkommen.
Letztlich stand es Spitz auf Knopf, verrecken oder überleben. Ich wollte lieber verrecken, als auf den Trost der Drogen zu verzichten, doch irgendwas gab mir und irgendwie erhielt ich eine letzte Chance, clean zu werden. Also stürzte ich mich aus der Drogensucht in die Arbeitssucht und war in gesellschaftlich verträglicher, ja angesehener Art und Weise weiter dabei, mich finden zu wollen, indem ich vor mir und dem Schrecken zu fliehen versuchte. Darüber vergingen die nächsten 30 Jahre, bis ich dank einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung soweit zu mir fand, dass ich heute die Trümmer Meinerselbst in mir versuche zu vereinen, und dabei altruistisch an jene Kinder denke, die noch leiden und leiden werden, weil die Täter immer noch Mütter und Väter, Brüder und Schwestern, Tanten und Onkel und sonstige schamlose Sexualverbrecher im näheren Umfeld sind, die sich an ihnen vergehen werden, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, und sie meinen, ob ihrer Schandtat unentdeckt bleiben zu können.
Also fand ich mich mit Herpes-Prophylaxe und allmorgendlich vergessenen allnächtlich wechselnden Albträumen in der Rechtsanwaltspraxis von Dr. Schobel ein, um weit mehr zu berichten, als dass ich das je in einer probatorischen Stunde getan hatte. Die Tage davor war ich sehr nervös, häufig dissoziiert und musste mich all meiner Skills bedienen, um Flashbacks und intrusive Grübeleien einzudämmen. Ruth meinte zuvor schon, ich sollte den Termin besser absagen …
Dr. Schobel stellte mir seine Kollegin vor; ich nenne sie Dr. Schack. Beide vertreten seit Jahren in ihren Praxen ausschließlich Opfer sexualisierter Gewalt. Dr. Schobel erläuterte mir die Anonymisierung der Dateien, die dann auf gesichertem Postweg nach Berlin gesandt werden. Nachdem ich die neue Umgebung geprüft, den passenden Stuhl ausgewählt habe, beginne ich, indem ich zunächst meinen Zweifel an dem Sinn der Anhörung kundtue. Denn der Sinn dieser Anhörungen erschließt sich mir nicht. Meine Geschichte zu erzählen ist letztlich so banal wie der alltägliche Missbrauch, der irgendwann – wie bei mir – in alltäglichen Albträumen verrinnt. Und eine Sammlung an Missbrauchsberichten wäre letztlich nur ein Schwarzbuch mehr, eine unerträgliche Sammlung der Schändlichkeit, die kaum ein Mensch wirklich zu rezipieren vermag. Gleichwohl werde ich die Gelegenheit nutzen, um Zeugnis abzulegen. Es ist zum einen mir selbst wichtig, neben dem geschehenen Outing von vor neun Jahren gegenüber dem Standesamt, nun ein Comingout zu vollziehen. Ersteres ist das abgenötigte, letzteres das freiwillige Bekenntnis einer peinlichen Eigenheit. Zum anderen weiß ich ja nicht, selbst wenn sich mir der Sinn der Anhörung im Augenblick nicht erschließt, zu welchem Zweck und Nutzen mein Bericht beizutragen vermag. Jedenfalls empfinde ich es als eine altruistische Notwendigkeit, den Schaden für kommende Generationen zu minimieren. Denn eins sollte nicht geschehen, so wie es sich derzeit ja bereits abzeichnet, dass das Thema Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung gesellschaftlich wieder bemäntelt und tabuisiert wird. Nein, es bleibt leider eine böse Plage, die möglichst minimiert und in Schach gehalten werden muss. Deshalb sollte sie niemals wieder in der Quarantäne familiärem und gesellschaftlichem Beschweigens isoliert und die Opfer mit ihrer Not alleingelassen werden.
Alsdann beginne ich von den wohlhabenden Zuständen der Eltern nach dem Krieg in ihrer Villa in Bogenhaus zu erzählen, von ihrer Trunksucht und dem über ein Jahrzehnt währenden allmählichen finanziellen Niedergang, bis dann ihre vier Kinder im Waisenhaus verschwanden. Ich erzähle von der ersten frühen Erinnerung an die sadistische körperliche Züchtigung und dem ersten direkten sexuellen Übergriff, als mir, dem Fünfjährigen, die Mutter unvermittelt ihre Scham zeigte.
Und so fahre ich fort, erzähle die Geschichte meines Missbrauches mit all seinen Verästelungen in einer Familie, in der die Kinder misshandelt, vernachlässigt und meine Schwester und ich sexuell missbraucht wurden. Ich erzähle die Geschichte unserer Verwahrlosung und lese aus den Gesichtern der beiden Rechtsanwälte Schobel und Schack, wie sie das geschilderte Elend erfasst und sie mein Leid mitempfinden. Ich habe mich gut unter Kontrolle. Es spricht aus mir. Die Tür meiner Erinnerung ist weit geöffnet. Es darf aus mir sprechen. Ich bin nicht dissoziiert, nur Meins ist ein wenig reduziert. Einmal ist mir zum Weinen, doch ich fasse mich schnell, trockne die Träne mit einem frischen Taschentuch mit Paisleymuster, Tränen trocknen Tränen. Hin und wieder halte ich mir mein Riechkästchen mit Amberharz unter die Nase, um mich zu sammeln und nicht zu zerflattern. Erst später auf der Straße nehme ich ein Prise Ammoniak vom Riechsalz, um wieder ganz gegenwärtig zu werden und Boden unter den Füßen zu finden.
Zwischendurch stellt man mir ein paar Fragen zum besseren Verständnis. Schack interessiert sich für den Umstand, weshalb ich Kontakt zur mich missbrauchenden Mutter gehalten hatte sowie zur Entwicklung der späten PTBS, die mich ja erst mit 60 Jahren ereilte. Der Kontakt zur Mutter war eigentlich ein taktischer Fehler meinerseits. Wäre ich nicht 1994 zur Beerdigung des Vater gekommen, hätte ich nach zehn Jahren Distanz wohl auch weiterhin keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. So aber funktionierten die alten Konditionierungen. Die Fäden, an der die Marionette Meinerselbst hing, konnten wieder von ihr bespielt werden und ich gehorchte in bewusstloser dependenter Abhängigkeitsstörung. Nur ja alles recht machen und die vorgegebene Rolle ausfüllen! Besser konnte ich die Frage nicht beantworten, denn ich war damals in dieser Hinsicht noch gänzlich unreflektiert, ich nahm die durch den erneuten Kontakt progressive Beunruhigung wie ein Naturereignis. Zudem war ich in mir und mit mir weiterhin damit beschäftigt, den Makel des erlittenen Missbrauchs zu beherrschen und unter meiner seelischen und sozialen Oberfläche verborgen zu halten.
Auch die naheliegende Frage nach dem möglichen Warum des kriminellen Verhaltens der Eltern sprach ich an, noch ehe sie gestellt wurde. Sie hängt mir zwar heute nur noch selten nach, denn ich weiß, dass sie nicht zu beantworten ist und vor allem würde sie nichts erklären. Die Eltern wurden Täter, weil sie die Gelegenheit dazu hatten. Andere Eltern hätten zwar auch die Gelegenheit gehabt, doch es wäre ihnen niemals in den Sinn gekommen, sich ihrer zu bedienen. – Das wissende wie zustimmende Nicken von Frau Dr. Schack ist mir noch vor Augen, als ich davon sprach, wie der Vater alle unsere sozialen Kontakte kontrollierte und uns die Begegnung mit gleichaltrigen Kindern erschwerte, damit der ganze missbräuchliche Mief in der Familie gehalten wurde. Gleichzeitig hatten wir Kinder unser eigenes Schweigegebot, denn niemals hätten wir, die Schande, die uns angetan wurde, einem anderen Kind zugeflüstert. Wir waren ob der erlittenen Misshandlung und des Missbrauchs viel zu sehr beschämt, um auch nur einen Mucks auszuplaudern.
Zum Schluss der Anhörung sprachen wir über gesellschaftspolitische Voraussetzungen, die ich für notwendig erachte, damit sexueller Kindesmissbrauch eingedämmt werden könnte beziehungsweise sich das Leid betroffener Kinder verkürzen ließe. Ich hatte dazu eine Liste angefertigt, die ich übergab, und die ich in einem weiteren Blogbeitrag veröffentlichen werde. An erster Stelle auf der Liste stand: „Resilienz der Opfer untersuchen, um hieraus Strategien für wirksame Hilfsprogramme abzuleiten.“
Raum nahmen auch Gedanken zur Zivilcourage ein. Wie man es ermöglicht, dass es selbstverständlich wird, dass man sich einmischt, sobald man sieht, dass ein Kind misshandelt wird. Wobei wir auch über das Schweigetabu nachdachten, dass insbesondere in Familien voll beklemmender Kraft ersteht, sobald man einen Missbrauchsverdacht hegt. Denn in der Sippschaft einen Missbrauchsverdacht zu äußern, ist wegen der tarierten Hierarchie besonders schwierig, schließlich könnte der Klan beschädigt oder man selbst verstoßen werden. Hier wäre für unsere Nanny-Medien ein weites und sogar sinnvolles Feld zu beackern, als wieder und wieder eine Missbrauchsgeschichte mehr als Abendunterhaltung zu produzieren. – Es ekelt mich, wenn ich daran denke, wie zu Erdnussflips und Kartoffelchips Missbrauchsfilme aus der Glotze goutiert werden.
Später, auf dem Heimweg, stellte ich fest, dass ich so manchen Schrecken für mich behalten hatte. Was auch verständlich ist, die Anhörung dauerte zwar insgesamt zweieinhalb Stunden, doch was dahingehend in meinem Leben an Wahnsinn geschah, habe ich zum Teil in 200 Therapiestunden noch nicht erzählt.
In der darauffolgenden Nacht träumte ich von einer Sonnenfinsternis, die ich seltsamerweise steuern konnte, und die sich, wie es sich für einen Albtraum gehört, nicht richtig arrangieren ließ. Ich kämpfte also mal wieder so vergeblich wie unaufhörlich für ein Gelingen und ein gutes Ende. Gleichwohl ist die Metapher der Sonnenfinsternis ein symbolträchtiges und vielschichtiges Traummotiv. Schließlich gilt eine Sonnenfinsternis sowohl als ein Weltenende, als auch als eine Weltengeburt. Sie ist ein starkes Zeichen für Tod und Enden sowie für Neubeginn – eben für Resilienz pur.
Die Anhörung ist nun eine knappe Woche vorbei, und ich durchlebe mal wieder ein Wechselbad der Stimmungen und Gefühle. Einerseits bin ich erleichtert über mein Comingout, fühle mich darüber wieder mal ein Stück mehr befreit, andererseits hat mein Bericht meine Geschichte in mir auch wieder weit in den Vordergrund gerückt, so dass sich die Erscheinungen meiner PTBS verstärkten. Ja, es geht mir gar nicht gut. Ich fühle mich erschöpft, Dissoziation und Gefühlswallungen scheinen derzeit verstärkt auf und ich laute ungewöhnlich intensiv affektiv. Da hat sich viel in mir gelöst, was sich nun einen Weg nach draußen sucht. Ich gebe diesem Drang, wo ich kann, nach. – Nein, ich habe es für mich nicht bereut, dieser Anhörung zu folgen. Und ja, ich bin nach wie vor der Ansicht, dass meine offenbarte Geschichte ein kleiner Baustein dafür ist, Missbrauchsgeschehen im Entstehen wie in seiner Dauer zu beschränken. Meine Missbrauchsgeschichte dauerte, wenn ich meine Drogenkarriere hinzurechne, bis zu meinem 29. Lebensjahr. Heute bin ich 66 Jahre und keine zwei Monate alt.
Danke für diesen anschaulich und lebendig geschriebenen Bericht. Möge das alles letztendlich eine stärkende Erfahrung werden – dann war es auf jeden Fall zu etwas gut! Und es ist schließlich eine Leistung, Gewalterfahrungen wieder lebendig werden zu lassen(und das geschieht, wenn sie kommuniziert werden), aber einigermaßen stabil zu bleiben dabei. Wenn das Schreckliche nicht lebendig werden darf, berührt ja auch das Schöne und Wundervolle des Lebens nicht.
Mich interessiert noch, ob Sie Auskunft darüber bekamen, was mit Ihrem Bericht konkret geschieht; und ob Sie erfahren werden, welche „Ergebnisse“ aus den Anhörungen gezogen werden, und von wem. Was geschieht mit diesem kostbaren (und angesichts der Kosten der Anhörungen auch kostspieligen) Rohstoff?
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Ich habe die Frage auf Ihre Anregung hin nachgeholt; sie wurde an die UKASK weitergereicht. Sobald ich Antwort erhalte, gebe ich sie Ihnen hier zur Kenntnis.
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Andreas Huckle hat sich in seinem Blog sehr konzis, kritisch und klar (welch schöne Alliteration) zur Veranstaltung „Geschichten die zählen“ der UKASK geäußert. Hier der Link: https://goo.gl/ukir55 .
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