Dreißig Jahre war ich Opfer. Opfer der Mutter, des Vaters und anderer. Es ging um Kindesmissbrauch und sexualisierte Gewalt. Es ging um Kindesmisshandlung. Es ging um schreckliche Begleitumstände von Drogenmissbrauch. Es war ein elendes Leben. Es hat mich geprägt, aber die nächsten dreißig Jahre schonte es mich, indem das Posttrauma ausblieb. Ich blieb nur stets mit einem Bein meiner Vergangenheit verhaftet; und wenn es nur die Albträume waren, die mich allnächtlich an den vergangenen Wahnsinn erinnerten. Dann, mit sechzig, ereilte es mich doch. Eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) zwang mich in die Psychotherapie. Dort erst begriff ich allmählich, dass ich mir längst eine Opferidentität zugelegt hatte. Das bedeutet, ich definierte mich bereits länger als ich meinte über den Missbrauch und die Gewalt, denen ich die ersten drei Jahrzehnte meines Lebens ausgesetzt war.
Mein Leben danach war im Grunde nur eine Flucht, ein Ausweichen vor den Folgen des Missbrauchs und die Vermeidung von Auslösern, die mich verunsichern und in vergangene Schrecken zurückwerfen konnten, die mir zudem dauerhaft zum allnächtlichen Albtraum geworden waren. Auch wenn ich in den nächsten drei Jahrzehnten ein ansehnliches Werk geschaffen hatte, glich mein Schaffen weniger einer kreativen Eruption, als vielmehr einem veränderten Suchtverhalten, nämlich der Arbeitssucht, mit der ich mich wegbeamen und mein seelisches Leid narkotisieren konnte.
Mit Beginn meiner dritten Traumatherapie, in der wir uns im wesentlichen damit beschäftigen, Skills einzuüben, wie ich mit Flashbacks, Intrusionen, Dissoziationen und anderen Folgen meiner kPTBS umgehe, auf dass ihr Schrecken geringer wird und mich nicht mehr so weit aus der Spur zu tragen vermag. Zudem lerne ich Strategien, wie ich entstehende Trigger im Vorfeld bemerken und ihr mich womöglich überwältigendes Potenzial auflösen kann. Es geht also darum, Merkmale der kPTBS zu reduzieren, die das Missbrauchsgeschehen mittel- oder unmittelbar in mir wieder aufleben lassen könnten. Denn in annähernd zehn Jahren chronifizierter kPTBS habe ich längst eine Opferidentität entwickelt. Das heißt, ich definiere mich selbst häufig über mein Opfersein und entwickelte dabei die Furcht, durch die Reduzierung meines Leidens daran, ein Stück meinerselbst zu verlieren.
Der Grund für diese sich formende Starrsinnigkeit, in der Opferrolle zu verharren, liegt wohl daran, dass ich durch meine Geschichte in meiner Identität ohnehin schwer verunsichert bin. Mir fehlt, was den meisten Menschen eigen ist: ein stabiles Selbstverständnis und Ichbewusstsein. Jedenfalls verstehe ich mich nach wie vor als Meins, einer wechselnden Präsenz verschiedener Persönlichkeitsanteile, die mich ausmachen, die allerdings kaum miteinander verbunden und aufeinander bezogen sind. Einst dachte ich, das sei ein Zustand der Erleuchtung, wobei mich eine längere Phase der Zenmeditation darin bestärkte, bis ich erkennen musste, dass meine Annahme falsch war und Meins nur ein durch Seelenmord zersplittertes Ego ist.
Einerseits bin ich zweifellos Opfer übelster Gewalt, andererseits ist dieses Opfersein zwar ein schlimmes Schicksal aber kein Merkmal meinerselbst. Denn wann immer es zum Merkmal meinerselbst wird – und das geschieht im Zuge meiner kPTBS immer wieder einmal – gewinnen die Täter wieder Macht über mich und Meins unterwirft sich einmal mehr ihrer Schändlichkeit. Erst wenn ich die Opferidentität wieder abstreife, befreie ich mich von ihrer psychischen Herrschaft über mich, löse mich von der Vergangenheit und verschaffe mir wieder Präsenz und Zukunft. Aus diesem Grund habe ich meiner Timeline bei Twitter diesen Tweet angeheftet:
Warum ist Kindesmissbrauch Seelenmord?
Weil das traumatisierte Opfer über das, was ihm angetan wurde, nicht mehr hinauskommt. Seine Seele kann sich nicht mehr entwickeln. Sein Leben ist an diesem Punkt stehen geblieben.
Therapeutische Hilfe ist langwierig und schwierig …
Dieses Statement erinnert mich mehr an meine eigene Aufgabe, als dass ich damit etwas Kluges hervorheben möchte. Denn meine Aufgabe im Zuge meiner kPTBS verstehe ich vor allem darin, sowohl aus mir selbst, als auch mit therapeutischer Begleitung, Wege zu finden, wie ich meiner Vergangenheit entkomme und wieder in ein selbstbestimmtes Leben gelange. Ich will fortan lebendig sein und nicht als Zombie, als Untoter, mein Leben fristen und meine Mitwelt nicht mit dem Pesthauch meiner Vergangenheit vergiften. Ich möchte hin zu einem Selbstverständnis als Überlebender einer katastrophalen Kindheit und Jugend. Ja, ich bin ein Überlebender! Und dieser Begriff bedeutet mir heute sehr viel; denn ein Überlebender hat eine Katastrophe überlebt und lebt fort, nicht als Zombie, sondern als Mensch, der sein Leben mit den ihm verbliebenen Fertigkeiten jetzt und künftig gestaltet und sich hierdurch als Mensch unter Menschen und nicht als Zombie unter Zombies wiederfindet. Opfer werde ich durch das Erlittene immer sein, doch das verstehe ich zunehmend als eine sachliche Einordnung und nicht als ein Merkmal meinerselbst. Schließlich bleibt, wer sein Bein im Krieg verloren hatte, ein Kriegsversehrter, so wie ich ein Missbrauchsversehrter bleibe, was letztlich mit einem Grad der Behinderung (GdB) festgeschrieben wurde.
Der amerikanische Psychiater und Traumatherapeut Bessel van der Kolck skizzierte diese Notwendigkeit in seinem Buch „Verkörperter Schrecken“ unter der Titelzeile: „Lernen, in der Gegenwart zu leben“, wie folgt:
Die Schwierigkeit einer Traumabehandlung liegt nicht nur darin, dass man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen muss, sondern noch stärker in der Notwendigkeit, die Qualität des alltäglichen Erlebens zu verbessern. Traumatische Erinnerungen erlangen im Falle einer PTBS unter anderem deshalb die Vorherrschaft, weil es den Patienten so schwerfällt, sich im gegenwärtigen Augenblick lebendig zu fühlen. Wenn Menschen sich hier und jetzt nicht völlig lebendig fühlen können, suchen sie Orte auf, wo sie sich einmal lebendig gefühlt haben – auch wenn dort Entsetzen und Elend auf sie warten.
Viele Ansätze zur Behandlung von traumatischem Stress konzentrieren sich darauf, die Patienten bezüglich ihrer Vergangenheit zu desensibilisieren, wobei man erwartet, dass die erneute Konfrontation mit Traumata ihre emotionalen Ausbrüche und Flashbacks verringern wird. Meiner Meinung nach basiert dieser Ansatz auf einem Missverständnis dessen, was bei traumatischem Stress geschieht. Wir müssen unseren Patienten vor allem beibringen, voll und ganz und vor allem sicher in der Gegenwart zu leben. Damit sie dies schaffen, müssen wir ihnen helfen, die Gehirnstrukturen, die während des traumatischen Erlebnisses »abgeschaltet« wurden, zu reaktivieren. Eine Desensibilisierung mag die Reaktivität Traumatisierter verringern, aber sie macht sie in ihrem Alltag nicht zufriedener – wenn sie spazieren gehen, sich etwas zu essen kochen oder mit ihren Kindern spielen -, so dass das Leben ungenutzt an ihnen vorüberzieht.
Ja, Opfersein kann klebrig wie Honig sein, aber es ist eine Leimrute, die uns ausgelegt wurde und die uns zum Verhängnis werden kann. Ich wollte das gesellschaftlich angebotene Opferabo nie annehmen und entzog mich auch dem Opferkult, obgleich die Prämien an Aufmerksamkeit und „Aufwertung“, die mir von Seiten professioneller Helfer offeriert wurden, verlockend schienen. Denn das sah ich trotz meiner kPTBS, es ging diesen Eilfertigen weniger um mich oder das Schicksal anderer Opfer, sondern es ging ihnen vorrangig um ihre Agenda und wir wären nur die Instrumente gewesen, die sie nach belieben bespielen hätten können. Über diese besonderen gesellschaftlichen Strukturen des Missbrauchs werde ich demnächst berichten. – Ja, ich will überleben, und den Tätern keine Macht mehr geben, und dazu will ich Präsenz gewinnen und in meiner Gegenwart ankommen. Das ist manchmal schwierig, vor allem in depressiven und dissoziativen Phasen, doch es lohnt sich, dieses Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, denn nur dann finde ich meinen Weg, der mich wieder zu mir in den aktuellen Tag in mein Licht führt.
Also schließe ich mit dem Zugehörigkeitsbekenntnis der Sucht-Selbsthilfegruppe Fährhaus, wo ich unter Freunden Geborgenheit und Verständnis fand und die mich seit Jahren auf meinem Weg begleiten.
Ich bin hier, weil es letztlich kein Entkommen vor mir selbst gibt. Ich bleibe solange auf der Flucht, bis ich mich Euren Augen und Herzen zu stellen wage.
Ehe ich es nicht ertrage, mein innerstes Geheimnis mit Euch zu teilen, werde ich nicht davon befreit sein. Ich werde einsam bleiben.
Hier in der Gemeinschaft kann ich mir selbst begegnen, nicht als der Riese meiner Träume und auch nicht als der Zwerg meiner Ängste. Sondern als Mensch, der als Teil des Ganzen mitarbeitet.
Auf diesem gemeinsamen Grund kann ich Wurzeln schlagen und wachsen. Nicht mehr allein wie im Tod, sondern lebendig als Mensch unter Menschen.