Es gibt nur wenige Bücher von männlichen Opfern, die Kindesmissbrauch überlebt haben. Das Buch von Max Mehrick ist eins der wenigen. Es ist kein Buch über Missbrauchshandlungen oder Täterfiguren, sondern es ist ein Buch über eine zerstörte Seele. Es ist der Schatten einer Seele, den Mehrick in der Figur des Jakobs skizziert. Mehrick übernimmt dabei buchstäblich die Rolle des anderen, des überlebenden Jakobs, denn der Protagonist Jakob tötet sich am Ende des Buches. Mehrick stellt als Erzähler das Alter Ego Jakobs, das dessen wechselnde Verfassung erläutert. Dabei ist er sich einerseits nahe, andererseits distanziert. Hierdurch schuf er eine Spannung, die mich für das an sich absehbare Geschehen interessierte. Dabei wird nicht die Tristesse von Jakobs kurzem Leben zum Gegenstand der Betrachtung, sondern die Zwangsläufigkeit mit der ein sexuell missbrauchter Junge am und im Leben scheitert.
Dieses Wechselspiel der Betrachtung als auch der Räume, in denen Jakob mal seelisch, mal physisch agiert, findet sich bereit im Titel des Buches, denn Jakob sitzt zwar die meiste Zeit einsam vor einem Fenster und blickt hinaus auf den Platz vor dem Haus, doch eigentlich blickt er nicht hinaus, sondern in seine Einsamkeit hinein. Es ist also der Leser, der vom Erzähler geleitet, diesem Blick folgend, in Jakobs Seele blickt und dort die Trümmer seiner Persönlichkeit und damit Jakobs Leere und Einsamkeit erkennt. Ja, der Jakob, der uns in dem Buch begegnet, ist leer. Er ist eine durch über Monate anhaltende Vergewaltigung ausradierte Persönlichkeit.
Jakob wurde als Internatsschüler von seinem Mathematiklehrer, dem Religionslehrer und dem Schulleiter vergewaltigt. Er war nur einer von vielen Schülern, die von den Lehrern der Schule – gemeint ist die Odenwaldschule – missbraucht wurden. Als Jakob sichtlich pubertiert, wird er als Sexobjekt für die drei Päderasten uninteressant und wegen mangelnder Leistungen von der Schule entlassen. Bis dahin hatten ihn die drei Sexualverbrecher protegiert, damit er ihnen trotz schlechter Leistungen als Lustknabe erhalten blieb.
Jakob kommt zu seiner versoffenen Mutter, die ihn als Versager beschimpft und ihn als lästig in ihrer Wohnung empfindet. Kurzentschlossen reicht ihn die Mutter an seine Tante weiter, die ihm klar macht, dass er nur geduldet ist und ihn in das Zimmer unterm Dach ihres Hauses verbannt. Dort setzt sich Jakob an das Fenster mit Blick auf einen belebten Platz. Seine Arbeit in einem Lager verliert er bald, nachdem er dort als Außenseiter wahrgenommen und gemobbt wurde. Von da an bleibt er menschenscheu die meiste Zeit in seinem Zimmer, sieht aus dem Fenster und sinniert über sich nach. Wobei er den erlittenen Missbrauch für sich nicht benennen kann, sondern ihn nur als seine große Schuld erlebt. Er Jakob war schmutzig gewesen und nicht seine drei Vergewaltiger.
Immerhin denkt Jakob soweit über sich nach, dass er seine Lebensschwierigkeit ergründen möchte; denn warum er so seltsam anders als seine Mitmenschen ist, bleibt ihm, da er den erlittenen Missbrauch nicht als solchen reflektieren kann, verborgen. In seinem Zimmer bringt sich Jakob, der als funktionaler Analphabet aus dem Internat kam, mühsam das Lesen bei. Wobei er die Texte mangels Bildung nur schwer erfassen kann.
Erst die kurze Begegnung mit einem ebenfalls missbrauchten Mädchen – Manjana – erhellt ihm, was man ihm im Internat angetan hatte. Selbst als er dabei seine Not herausstößt, meint er noch, dass er damit seine Lehrer, seine „Förderer“, verraten habe. Nach der Begegnung mit Manjana schließt sich Jakob noch mehr in seinem Zimmer ein. Letztlich ist es die halbseitige Todesanzeige für den Schulleiter in der Tageszeitung, in der sein Vergewaltiger als Wohltäter gehuldigt wurde, die für ihn zum Auslöser wird, sich aus dem Dachfenster zu stürzen. „In einer Welt, in der Belzer einer von den Guten war und er der ewig Falsche, wollte er nicht mehr leben.“
Doch selbst in seiner letzten Sekunde, als Jakob zerschmettert auf dem Pflaster vor dem Haus seiner Tante in seiner Agonie noch einmal kurz zu Bewusstsein kommt, wird er verhöhnt und als Schande wahrgenommen. Es ist ein Sanitäter, der sich über ihn beugt und ihm zuranzt: „Noch so einer, dem es egal ist, dass wir ihn vom Pflaster abkratzen müssen.“
Im Grunde verfasste Max Mehrick ein erzählendes Sachbuch; denn er bringt dem Leser in eingängiger Weise viele Aspekte einer sich entwickelnden posttraumatischen Belastungsstörung nahe. Gleichzeitig erzählt er auch als das überlebende Alter Ego von Jakob die Geschichte seiner eigenen Resilienz. Wobei das Wort Resilienz in seiner Bedeutung als Überlebenswillen und Widerstandskraft im Grunde seines Wortsinns für Überlebende eines Kindesmissbrauchs widersinnig ist. Denn Resilienz bedeutet eigentlich, seine ursprüngliche Form wieder anzunehmen. Doch davon kann bei einem missbrauchten Kind keine die Rede sein. Durch die Vergewaltigung eines Kindes wird dessen Persönlichkeit massiv beschädigt noch ehe ihre Entwicklung abgeschlossen wurde. Von daher haben wir es bei Überlebenden mit rudimentären Persönlichkeiten zu tun, von denen einige so viel Resilienz besitzen, dass sie für sich eine Imagination beziehungsweise ein Verständnis einer heilen Persönlichkeit entwickeln, der sie nachzuleben versuchen.
Jakobs Resilienz hält ihn, nachdem er vom Internat relegiert wurde für eine Weile am Leben, indem er versucht, sich und seine Situation zu verstehen. Nur sind die ihm vermittelten Introjekte durchwegs negativ, so dass er sich selbst in jeder Beziehung als schlecht wahrnimmt, er ist für sich selbst auf ganzer Linie ein Versager. Einerseits bemüht er sich um Bildung, doch seine Versuche, den erlittenen Missbrauch zu verstehen scheitern, weil er ihn nicht zu denken wagt. Denn was ihm geschah, konnte nur seine Schuld sein und nicht die seiner Vergewaltiger, andernfalls hätte es gar nicht geschehen können. Würde er ihnen zudenken, was sie waren, würde er sie nur beschmutzen und sich erneut versündigen. So wird Jakob ein weiteres Mal überwältigt, indem er sich durch die ihm introjizierte Selbstwahrnehmung blockiert, sich den Missbrauch als solchen zuzugestehen.
Seine Selbstblockade wird besonders deutlich, als er bei einem seiner seltenen Ausflüge mit Majana spazieren geht und sie ihm dabei von ihrem erlittenen Missbrauch erzählt. Sofort fürchtet sich Jakob, von ihr als Täter erkannt zu werden; denn weil er ein Mann ist, ist er seinem Selbstverständnis nach auch Täter. Majana lässt ihm auch wenig Raum, sich selbst zu offenbaren; und selbst als es aus ihm herausbricht: „Bei mir waren es die Lehrer“, spricht er nicht weiter. Nicht weil er nicht will, sondern weil ihm die Worte zu dem fehlen, was er bislang nicht zu analysieren wagte. Jakob ist dazu nicht imstande, weil er nur verdrängen wollte, was ihm widerfahren war. Das Mädchen hingegen spricht offen und unmissverständlich über ihren Missbrauch und seine Folgen. So sagt sie über ihren Vater, der sie ab ihrem siebten Lebensjahr mit Wissen ihrer Mutter vergewaltigte: „Ich bin nicht normal. Ein bisschen plemplem. Das hat er gemacht; er hat irgendwas kaputt gemacht; so als wäre er mit seinem großen Schwanz bis in meine Seele gekommen.“
Majana ist Jakob dahingehend überlegen, nicht nur weil sie bereits eine Traumatherapie hinter sich hat, sondern weil das Gespräch über den Kindesmissbrauch von Mädchen nicht mehr tabuisiert ist. Jakob hingegen versiegeln Schuld und Scham die Lippen. Er ist nur einer von abertausend missbrauchten Jungen, die nicht darüber sprechen, weil ihnen neben den Worten und dem Gehör auch die Vorbilder fehlen, Männer, die als Kinder ebenfalls missbraucht wurden und ihre Geschichte erzählen, ohne dafür Spott und Häme fürchten zu müssen. Jungen, Burschen und überlebenden Männern wird heute immer noch die Reziprozität versagt, der ehrliche offene und vorurteilsfreie Austausch über ihren Schmerz. Ja, ihren Missbrauch überlebende Männer müssen auch heute noch quasi in Schande leben, weil sich die Gesellschaft weigert, ihre Stereotypen von Männlichkeit und sexuellem Missbrauch aufzugeben.
Majana überlebt das Gespräch mit Jakob nicht. Sie tötet sich in der Nacht nach dem Spaziergang. Mehrick deutet diesen Selbstmord nur an. Doch er ist zwangsläufig. Sie war sich, wie sie Jakob mehrmals sagte, selbst egal; sie kannte nur hoffnungsloses Grauen, denn der Missbrauch war zwar vorbei, doch er ließ sie nicht mehr los. Das Trauma hielt sie fest und blockierte jede Entwicklung. Also zog sie, wie Jakob bald darauf selbst, den für sie richtigen Schluss. Ein Schluss, den sie bereits in sich trug und Jakob verschlüsselt mitteilte: „Niemand darf so etwas mit Kindern machen. Kinder sterben daran! Wenn sie Pech haben, leben die gestorbenen Kinder nach ihrer toten Kindheit dann als Erwachsene ein totes Leben. Ach, was rede ich für einen Scheiß!“
Sich selbst nicht respektieren zu können, ist eine direkte Folge sexueller Gewalt, denn so wie der Täter die körperliche Integrität nicht respektiert, so verliert das missbrauchte Kind noch viel mehr, es vermag sich als Person nicht mehr zu respektieren, weil es seiner Meinung nach mit sich machen ließ, was es nicht wollte. Es verliert den Zugang zu seiner Person, verachtet sich und seinen Leib, und entwickelt womöglich eine Ich-Dystonie, eine besonders krasse Form der Selbstentfremdung, bei der die Regungen und Gedanken des eigenen Ichs als einem selbst nicht zugehörig empfunden werden.
Jakob leidet stark an dieser Selbstentfremdung und versucht sich einerseits durch ausdauerndes Duschens über seine Körperlichkeit wieder zu finden, andererseits meidet er den Blick in den Spiegel, um nicht jenen zu sehen, der an allem Schuld trägt und den er nicht versteht.
Jakobs Erzählung von Jakob wirkt oberflächlich ruhig, distanziert und besonnen. Ich denke, das ist eine der wenigen Perspektiven, wie ein Überlebender seine Not zu überleben schildern kann, ohne sich über dem Bericht selbst zu verlieren; und ein solcher Selbstverlust kann durchaus tödlich sein. Ich weiß, wovon ich spreche, denn als ich 2011 mit meiner Traumatherapie begann, war ich durch die Offenlegung des traumatischen Geschehens auch höchst suizidgefährdet. Deshalb schloss ich einen Überlebensvertrag mit der Traumatherapeutin ab, dem ich mich auch heute noch verpflichtet fühle und den ich gelegentlich aus der Not heraus erinnere. Nur ein totes Leben führe ich von Anbeginn meiner Therapie nicht mehr. – Schade, dass der Jakob im Buch, diesen Weg ins Leben nicht finden und somit wagen konnte. Aber es ist auch eine Geschichte darüber, wie Überlebende von Kindesmissbrauch und insbesondere männliche Überlebende immer noch allein gelassen werden, weil Ihnen die Reziprozität und damit eine Voraussetzung ihrer „Wiedergeburt“ verweigert werden. Somit schließe ich mit einem Zitat des Traumatherapeuten Bessel van der Kolck:
„Soziale Unterstützung ist nicht das gleiche, wie einfach nur mit anderen Menschen zusammen zu sein. Der entscheidende Aspekt ist die Reziprozität: daß wir uns von den Menschen in unserer Umgebung wirklich gehört und gesehen fühlen, daß wir das Gefühl haben, ein anderer Mensch bewahrt uns in seiner Seele und in seinem Herzen. Wenn wir erreichen wollen, daß sich unser Körper beruhigt, daß er heilt und sich weiterentwickelt, müssen wir viszeral[1] ein Gefühl der Sicherheit erleben. Kein Arzt kann Freundschaft und Liebe auf Rezept verschreiben: Sie zu entwickeln erfordert komplexe und schwer zu erlangende Fähigkeiten. Man braucht keine lange Vorgeschichte traumatischer Erlebnisse zu haben, um sich auf einer Party, auf der man mit vielen Fremden zusammentrifft, befangen zu fühlen oder sogar in Panik zu geraten – aber ein Trauma kann die ganze Welt in eine Begegnung mit Aliens verwandeln.“
[1] vizeral = das limbische System, auch emotionales Gehirn genannt
Das Fenster zur Einsamkeit: Verborgenes Leben, Max Mehrick, 177 Seiten, Verlag Asanger, 2019, ISBN: 978-3893346356
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