Männliche Resilienz

Den Begriff Resilienz für jemanden zu verwenden, der wie ich bei Eltern aufwuchs, die ihre Kinder körperlich und seelisch misshandelten, mutet mir immer wieder falsch an. Das ähnelt dem Prozess, den ich in der Auseinandersetzung mit dem Programm der Anonymen Sucht-Selbsthilfe Fährhaus erfahre. Dort wurde Resilienz im vierten Schritt wie folgt umschrieben: „Wir spürten, nur durch bedingungslose Ehrlichkeit zu uns selbst können wir wieder zu uns selber stehen. Wir wurden unser erster Freund.“

Hierbei geht es darum, einen angenommenen gesunden Standpunkt wieder einzunehmen, den es allerdings im Leben eines Süchtigen meist nie gegeben hatte. Grundsätzlich bedeutet Resilienz jedoch die physikalische Eigenschaft eines Gegenstandes, seine vorherige „normale“ Form wieder anzunehmen. Übertragen auf die Psyche bedinge das, dass es einen heilen Zustand gegeben habe, in den die wunde Seele wieder zurückkehren könnte. Das aber ist bei erlebtem Missbrauch nicht mehr möglich. Folglich meint man mit Resilienz auch nicht, eine Art Reset auf „Ideal Null“, sondern eine Seelenkraft, durch die sich eine Person in heilsamer Weise selbstbehaupten kann. Es geht also nicht um Selbstveredelung oder Seelenfitness, wie Resilienz derzeit auf dem Psychomarkt angepriesen wird, sondern um jene Kraft, die uns bei seelischer Not und Niederlagen hilft, sich noch so viel seelische „Spannkraft“ zu bewahren, dass man trotz Verzweiflung und traumatischer Belastung einen Weg findet, zu überleben, statt weiter von den Dämonen seelischer Verletzung gefangen und gequält zu werden.

Allerdings ist Resilienz ungleich verteilt. Die einen haben mehr, die anderen weniger. Ob sie zwischen den Geschlechtern tatsächlich ungleich verteilt ist, vermag ich nicht einzuschätzen. Jedenfalls ist es ein resilienter Zug, seine Not auch benennen und mitteilen zu können; denn wer seine Not mit anderen Menschen teilen kann, verfährt nach dem Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Eine simple Weisheit, die Männer allerdings eher ignorieren als Frauen. Obgleich, wenn ich an die Suchthilfegruppen denke, finden sich in ihnen sichtlich mehr Männer als Frauen wieder. Was wiederum daran liegen könnte, dass suchtkranke Frauen dem allgemeinen Frauenbild widersprechen und sie sich deshalb eher verbergen. Jedenfalls dürfen Frauen allgemein eher über ihre Leiden und auch ihre seelischen Nöte sprechen. Frauen dürfen schwach, Männer müssen stark sein!

Dennoch meine ich, Resilienz ist eher eine Art „Begabung“. So wie traumatische Erfahrungen in den Epigenen über Generationen festgeschrieben werden, so sollten sich auch die Fertigkeiten im Umgang mit Traumata in den Epigenen als Potential einsenken. Das heißt Menschen, deren Ahnen viel Leid erlitten und überlebten, geben womöglich neben der traumatischen Befindlichkeit auch spezielle Überlebensstrategien als genetische Fertigkeiten an ihre Nachkommen weiter. So ließe sich die unterschiedliche Art von Bewältigung durch Menschen in Krisensituationen erklären.

Ein weiterer Punkt, der auch in der psychotherapeutischen Exploration gewichtig ist, ist die Unterstützung und Ermutigung durch Erwachsene in der Kindheit. Neben der konstanten Deprivation im Elternhaus gab es in der Tat einige Begegnungen mit Erwachsenen, die mir auch heute Jahrzehnte danach Sterne in meinen Erinnerungen sind. Es waren selten längere Begegnungen. Die waren auch kaum möglich, denn die Eltern achteten sehr darauf, dass wir keinen zu engen Kontakt mit anderen Kindern oder emphatischen Erwachsenen pflegen konnten. Der Gefahr, dass ihr ekelhaftes Tun bekannt werden konnte, waren sie sich wohl bewusst.

Wie real die Gefahr für sie war, kann ich heute einschätzen. Mit zehn Jahren war ich in einer Ferienfreizeit. Dort nahm ich einmal ein kleineres Mädchen auf den Arm. Sie begann sofort, mich mit der Zunge zu küssen. Erschrocken setzte ich sie ab und fragte sie, wieso sie das mache. Sie sagte unverblümt und heiter, das macht mein Papi immer mit mir so. Das war meine erste bewusst realisierte Begegnung mit Kindesmissbrauch. Das ein ähnlicher Missbrauch im Elternhaus ablief konnte ich damals allerdings nicht kognitiv umsetzen, zu sehr war ich es zum Beispiel gewöhnt, dass die Mutter in Unterwäsche rumlief und der Vater ihr vor den Augen der Kinder in den Schritt fasste. Aus dem Haus getragen, wäre diese „Alltäglichkeit“ sicher skandalös geworden.

Unbestritten wird es Männern heute nicht erleichtert, ihre Resilienz zu schulen und die traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend anzugehen und womöglich zu lindern. So weiß man durch Umfragen, dass Jungen ebenso häufig sexuelle Gewalt erleiden wie Mädchen. Auch weiß man in diesem Zusammenhang, dass es bei Jungen überwiegend Frauen sind, die sie sexuell ausbeuten. Ihre sexuelle Ausbeutung geschieht wie bei Mädchen zu 80% in familiären Zusammenhängen. Zu 98% sind den missbrauchten Kindern die Täter bekannt. Das Geschlecht der Kinder ist ebenso egal wie das Geschlecht ihrer Täter: Männer und Frauen missbrauchen Jungen und Mädchen in gleichem Maße. Nur ein Aspekt für die Möglichkeit resilienter Entwicklung ist entscheidend anders, nämlich die „Infrastruktur“ durch die den Opfern dieser Verbrechen Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Weibliche Opfer erhalten alle denkbare Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Hilfe. Männliche Opfer werden hingegen übersehen, verschwiegen, missachtet oder gar verhöhnt. Ein Mann, der als Junge von seiner Lehrerin vergewaltigte wurde, muss mit dem Hohn seiner männlichen wie weiblichen Mitwelt rechnen, wenn er seine Vergewaltigung nicht als eine Art „Reifeprüfung“ darstellt und seiner Vergewaltigerin Dankbarkeit und Respekt dafür zollt, dass sie ihn in die körperliche Liebe „einweihte“.

Ein exemplarisches Beispiel für die besondere Aufmerksamkeit gegenüber weiblichen Opfern ist der Untergang der Titanic 1912. Auffällig ist insbesondere wie wenig resilient die Männer an Bord für sich gehandelt hatten. Ja, sie fügten sich in ihre  gesellschaftlich konditionierte Rolle und opferten ihr Leben für das der Frauen an Bord.

Von den 2207 Passagieren und Mannschaft an Bord waren 439 Frauen. Das waren 20%. 333 Frauen wurden gerettet, was 76% aller Frauen oder einem Anteil von 47% aller geretteten Personen entsprach. Die Männer waren also stille Helden, die für die Frauen an Bord ersoffen.

Exakt das ist aber entscheidend für die Entwicklung von Resilienz in Hinsicht auf Missbrauchsverbrechen. Männer treten zurück, leugnen ihr Opfersein, ja wähnen sich wenn überhaupt lieber als „Betroffene“, weil Opfer so passiv, so beschämend klingt, dabei sind sie die Opfer von Raubtieren, nämlich Kinderschänderinnen, Vergewaltigerinnen und Schlägerinnen geworden. So nehmen es Männer stillschweigend hin, dass es in ganz Deutschland keine 10 Beratungsstellen für missbrauchte Männer gibt; wobei sie bei den meisten von ihnen die angebotene Expertise gar noch mit Tätern aus einem parallelen Programm „kein Täter werden“ teilen müssen. Programme „keine Täterin“ werden gibt es indes in ganz Deutschland nicht, weil Frauen ja so etwas wie Kinder zu vergewaltigen nicht tun. Richtigerweise tummeln sich deswegen auch im Betroffenenrat beim UBSKM unter 18 Betroffenen gerade Mal sechs Männer, von denen anscheinend kein einziger sexuelle Gewalt durch Frauen erlitten hatte. Somit bleibt weibliche Täterschaft einmal mehr gesamtgesellschaftlich verborgen; was eine spezielle und tabuisierte Form des Missbrauchs mit dem Missbrauch ist.

Somit wird sexuell missbrauchten Männern in unserer Gesellschaft die Chance genommen, ihre Resilienz überhaupt entfalten zu können; denn sie sind Opfer mit dem falschen Geschlecht, die zudem überwiegend von Tätern mit dem falschen Geschlecht missbraucht worden sind. In einer Person angelegte Resilienz aber braucht einen geschützten Raum, in dem sie sich überhaupt erst entfalten kann. Dieser Raum sollte auf wohlmeinender Reziprozität aufbauen. Allerdings ist dieser Raum kulturell hinsichtlich männlichen Leids von einer negativen Reziprozität erfüllt. Denn die grundsätzlichen gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber männlichem Leid bleiben – wie hier umrissen – Ignoranz und Indolenz.

Ein Mann, der sich aus diesem Hamsterrad befreien will, muss ein Rebell sein, denn er muss einer desinteressierten ja feindlichen Umwelt seine breite kalte Schulter zeigen, auf dass ihm sämtliche angepassten Ignoranten den Buckel runterrutschen mögen. Ein verletzter und geschändeter Mann muss bereit sein, seinen eigenen Weg allein zu gehen. Dann findet er auch Mitstreiter egal welchem Geschlechts, die ihm das geben, was Reziprozität ist: Wohlmeinender, mitfühlender Austausch oder wie es Bessel van der Kolk formulierte:

„Soziale Unterstützung ist nicht das gleiche, wie einfach nur mit anderen Menschen zusammen zu sein. Der entscheidende Aspekt ist die Reziprozität: dass wir uns von den Menschen in unserer Umgebung wirklich gehört und gesehen fühlen, dass wir das Gefühl haben, ein anderer Mensch bewahrt uns in seiner Seele und in seinem Herzen. Wenn wir erreichen wollen, dass sich unser Körper beruhigt, dass er heilt und sich weiterentwickelt, müssen wir viszeral ein Gefühl der Sicherheit erleben. Kein Arzt kann Freundschaft und Liebe auf Rezept verschreiben: Sie zu entwickeln erfordert komplexe und schwer zu erlangende Fähigkeiten. Man braucht keine lange Vorgeschichte traumatischer Erlebnisse zu haben, um sich auf einer Party, auf der man mit vielen Fremden zusammentrifft, befangen zu fühlen oder sogar in Panik zu geraten – aber ein Trauma kann die ganze Welt in eine Begegnung mit Aliens verwandeln.“

(Quelle: Bessel van der Kolk „Verkörperter Schrecken – Traumaspuren in Gehirn Geist und Körper und wie man sie heilen kann)

Also gedenke ich in Erwartung des Ostermontages, dem Tag der Resilienz, allen an ihren traumatischen Erfahrungen leidenden Männern und hoffe, sie können sich auf ihre innere Kraft besinnen, die es ihnen ermöglicht, sich von Fall zu Fall in einen heilsamen Kokon einzuspinnen und so gewitzt wie mutig, einer ihnen feindlichen Umwelt mal die Stirn zu bieten und sich mal ihr bis zur Unkenntlichkeit zu entziehen. Schließlich braucht man als Mann in dieser misandrinen Welt gleich einem Siegfried eine Tarnkappe; weshalb ich diese Betrachtung auch mit dem Siegfried Idyll ausklingen lasse.

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