Es hat dir doch auch gefallen!? Diese feststellende Frage folgt meist einer Schandtat, in der Absicht, sich das Opfer der eigenen Schändlichkeit zum Kumpan zu machen. Nicht minder perfide auch die Bemerkung: Du wolltest es doch auch! Womit der Täter ins Schwarze jener speziellen Verwirrung der Gefühle zielt, die sich vornehmlich bei sexueller Gewalt entfaltet; denn durchlebter Missbrauch ist für das Opfer auch eine multiple – wenn auch insgesamt üble – Sensation. Häufig gehen die Täter so vor, dass die sexuelle Manipulation nicht als ein Gewaltakt empfunden wird; hinzukommt, dass vor allem Kinder das Geschehen in keiner Weise einordnen können. Aber selbst Erwachsene wissen oft nicht zu deuten, ob sie nur schlechten, unangenehmen Sex hatten, oder ob sie Opfer eines sexuellen Übergriffs wurden. Jedenfalls geht eins mit jeder sexuellen Stimulation einher: sie bewirkt überwiegend lustvolle Gefühle, zudem fühlt sich das Opfer gar noch geschmeichelt, weil sich der Täter um es bemüht, es scheinbar ernst nimmt. Das ergeht dem Kind, das vom Erwachsenen angegriffen wird ebenso, wie einer rangniederen Person, die von einer höhergestellten belästigt wird. Sie wähnen sich leicht als das Subjekt persönlicher Zuneigung, statt zu erfassen, dass sie lediglich Objekt eines sexuellen Angriffs sind. – Der eigentliche Missbrauch geht also häufig mit einem vorausgehenden emotionalen Missbrauch einher.
Schließlich kommt es zur Vergewaltigung selbst. Ich meine damit jede sexuelle Gewalt, unabhängig von der juristischen Konnotation, die sich meist nur auf Penetration bezieht. Das heißt ich versammle unter dem Begriff Vergewaltigung alle Arten sexueller Manipulation von Minderjährigen und gegen den Willen einer erwachsenen Person. Letztlich durchleben die meisten Opfer eines Sexualverbrechens eine Situation, in der sie sich von ihrem Körper verraten fühlen. Ihr Leib reagiert auf die sexuelle Attacke ungewollt mit Erregung. Jungen erigieren, bei Mädchen kommt es zur Lubrikation, ja viele Opfer erleiden Orgasmen. Diese physischen Reaktionen werden als zusätzlich beschämend erlebt. Gleiches kann geschehen, wenn ein Kind, zum beteiligten Beobachter sexuellen Geschehens wird, so wie es mir einst selbst widerfuhr, indem die Eltern in meinem Beisein kopulierten.
Beschämung wirkt lähmend auf das Opfer. Lähmend im Augenblick der Vergewaltigung und danach oft lähmend für den Rest seines Lebens. Beschämung stiftet mit das Schuldgefühl, es wird als ehrliche Folge der Scham rezipiert; denn hätte ich keine Schuld, empfände ich doch auch keine Scham! Das Schuldgefühl nährt sich zudem aus der Hilflosigkeit, die ein Missbrauchsopfer empfindet. Dass es sich gemeinhin gar nicht, gegen die Vergewaltigung wehren hätte können, spielt dabei keine Rolle. Bei der Selbstreflektion der eigenen Rollen vermischen sich Gefühle von Ekel, Scham, Lust, Hilflosigkeit, Schuld, Wehrlosigkeit, Respekt, Verlustangst und Hoffnungslosigkeit zu einem unentwirrbaren Knäuel, das noch dazu von Angst, Selbstverachtung und Orientierungslosigkeit durchwirkt ist; wurden doch mit dem sexuellen Angriff alle Werte auf den Kopf gestellt, zumal der Angriff von Personen kommt, die man an sich liebt, denen man vertraut und auf deren Fürsorge man als Kind, um zu überleben, angewiesen ist.
Bei mir dauerte es vier Jahre, nachdem ich meine Traumatherapie aufnahm, bis ich mich aus dem aufgebürdeten Schuldkomplex zu lösen vermochte. Zu Beginn meiner therapeutischen Schritte konnte ich noch nicht mal das Wort Schuld aussprechen, so groß war mein Schamgefühl. Ich gab mir die Schuld, als Kind „versagt“ zu haben. Ich musste in diesem Zusammenhang das Wort Schuld, weil ich es nicht über die Lippen brachte, auf einen Zettel kritzeln. In diesem Blog verfasste ich über die Schuldproblematik sechs Kapitel (siehe Link). Zwei Therapeutinnen begleiteten mich dabei, ehe dieser Komplex in mir soweit befriedet war, dass ich ohne Schuldgefühle die Folgen meiner Vergewaltigungen bedenken und aufarbeiten konnte.
Der Schrecken hat ein Gesicht
Mit sexuellem Missbrauch gehen gemeinhin auch körperliche und seelische Misshandlungen der Opfer einher. Sie machen das Kind „gefügig“, lassen es verstummen und disziplinieren es durch Angst – häufig Todesangst – in den häuslichen Kontext egal ob Heim oder Familie. Misshandlung und Missbrauch sind einander zugehörige Schrecklichkeiten. Sie treffen das Kind in seiner Entwicklung und lassen es in eine abgründige Welt wachsen, die voll unbegreiflicher Widersprüche ist. Derlei Entwicklung bildet ein komplexes Trauma, das etliche Kinder und später Erwachsene nicht überleben. Sie sterben durch eigene Hand oder indirekt, weil sie ein unstetes gefährliches Leben führen müssen, um sich selbst irgendwie noch wahrnehmen zu können. Die wenigsten finden sich in einem psychotherapeutischen Prozess wieder, und davon findet wiederum nur eine Minderheit soweit zu sich, dass sie irgendwann ein akzeptables Leben ohne posttraumatische Heimsuchungen zu führen vermögen.
Das schlimme an dieser Abgründigkeit ist, dass sie kaum zu fassen ist. Kaum ein Überlebender solcher Schändlichkeiten vermag deren Schrecken in seiner Komplexität und Folgen zu überschauen. Dementsprechend geht es mir nicht anders. Dafür hat der Schrecken, der Albtraum, für mich ein Gesicht, oder besser gesagt eine Fratze: es ist die Scheinheiligkeit! Die freundliche Visage der Täter, jener gottgewissen und selbstgerechten Personen, die von sich zutiefst überzeugt sind, stets das beste zu wollen und keinem Menschen bewusst Leid zuzufügen. Ich kenne die glatten Fratzen von Kindheit an, zunächst fünfjährig, bewusst werdend, im Waisenhaus Spengelhof der Inneren Mission. Als in Rummelsberg ausgebildete Tanten und Brüder begegneten sie mir. So mächtig wie unfehlbar, sie waren das Gesetz und Gottes verlängerte Arm. Ja, und sie rochen alle so frisch, hatten stets ein Lächeln auf den Lippen, auch wenn sie Gemeinheiten kündeten oder die ihnen anvertrauten Kinder verdroschen. Sie wussten schmerzhaft und spurlos zu schlagen. Anders als der Vater, der sich daran aufgeilte, wenn die Haut am Hintern von seinen Stockschlägen blutend aufplatzte. Auch er war ansonsten ein friedfertiger Mann, der als Schriftsteller die Kirchenzeitungen mit Erbauungsgeschichten belieferte und seine Kinder missbrauchte. Auch der Mutter, die mich vom sechsten Lebensjahr an für ein Jahrzehnt missbrauchte, sah man ihre Schändlichkeit nicht an. Sie war eine Schönheit und dazu noch besonders moralisch und „mütterlich“, indem sie den Vater dazu anhielt, ihre vier Kinder zu verdreschen.
Es waren diese entspannten, gottgefälligen Gesichter der Erwachsenen – im Waisenhaus, in der Familie, in der Schule, in der Kirche – die mir begegneten und wie in einem Splatterfilm nur Maske für die eigene Niedertracht waren – so unfassbar, so unbeschreiblich. Schon als Kind wusste ich, dass sie lügen, dass ich ihnen nicht trauen durfte, und doch vertraute ich ihnen immer wieder, weil mir keine Wahl blieb, da ich auf ihr falsches Wohlwollen angewiesen war. Sie waren abgrundtief verdorben und diese Verdorbenheit hatte einen Geruch, nach Seife und Desinfektionsmittel, denn sie achteten sehr auf äußere Reinlichkeit, als könnten sie sich damit auch den Schmutz von ihrer Seele waschen. Ja, es war eine erschreckend giftige Reinheit, die sie rosig, pausbäckig und voller Stolz vor sich hertrugen. Oh, sie waren so stolz auf ihre vermeintliche Demut, dass sie gar nicht mehr merkten, wie sie sich zu ihrer Gottgefälligkeit in Widerspruch setzten.
All das sah ich als Kind, nur blieb es mir unbegreiflich, da mir die Begrifflichkeit für derlei untergründige und eingefleischte Unsittlichkeit fehlte. Allein diese Widersprüchlichkeit in ihrem Wesen zu erkennen, belebte meine Resilienz und machte mich firm, in diesem Irrsinn zu überleben.
Seit über einem Jahrzehnt erkenne ich diese ganze scheinheilige Verworfenheit wieder, sobald ich die Vertreter aus Kirche und Politik aufgereiht auf Podien sitzen sehe, wie sie satt und bräsig von Aufarbeitung faseln, dabei mal grinsend, mal betreten in die Kameras glotzen und gleichzeitig ihre verbrecherische Schuld übersehen, doch im selben Atemzug den Überlebenden ein Verzeihen und Vergeben abnötigen und sie somit ein weiteres Mal in Schuldigkeit zwingen. Ja, die teuflische Selbstentlastung von einst: „Es hat dir doch auch gefallen?“, bekommt so wieder Gewicht. Du mieses, fieses „Opfer“, du hast mich mit deiner verderblichen Unschuld verführt. In dir steckt der Satan, du warst und bist mein Versucher, und ich bin nur ein armer Sünder, dem du nicht verzeihen, nicht vergeben willst, wo dir doch unser gemeinsamer Gott Vergebung vorgibt. Also bleibst du ein Verworfener, damals wie heute …
So verharren sie in ihrer heiligen Gemeinheit mit ihrem bösen Gott und ihrer Verachtung für die Opfer. Es ist eine von der eigenen „wohlmeinenden“ Sülze erstarrte Blase, in die sie so satt und dumm wie unbewegt eingebunden sind. Das gilt zudem gesamtgesellschaftlich; schließlich ist Kindesmissbrauch ein Verbrechen, das in jeder siebten Familie vorkommt. Der Schmutz ist folglich überall: dort, wo er entsteht, dort, wo er liegen bleibt, und dort, wo er übersehen wird. Andernfalls hätten Politik und Religion heute – vor der Wahl des Bundespräsidenten – nicht wieder einen gemeinsamen „Gottesdienst“ gefeiert.
Leider kann ich deinen post aus technischen Gründen nicht liken – keine Ahnung wieso.
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Versuche es über diesen Link: https://lotoskraft.com/2022/02/13/unfassbare-gewalt/
Es kann daran liegen, dass das Blog seit jüngsten unter einer eigenen Domain firmiert.
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Erschütternd. Ich wünsche dir viel Kraft und Heilung.
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