Mario Andreotti schreibt in den aktuellen Sprachnachrichten Nr. 94 des VDS (Link) unter dem Titel „Zwischen Poesie und Schnoddrigkeit – Sprachwandel oder Sprachverfall in der zeitgenössischen Literatur?“ folgendes:
„Dazu zählt auch die Enttabuisierung von Themen, wie etwa das des sexuellen Missbrauchs eines Kindes, die bis dahin literarisch völlig tabu waren (…) Bedenklich wird diese Enttabuisierung dann, wenn sie Selbstzweck ist, wenn sie als reiner Köder benutzt wird, um neue Leser für ein Werk zu interessieren.“
Ebenso sehe ich es auch. Einerseits ist es gut, dass über Kindesmissbrauch geschrieben wird, andererseits sehe ich auch eine bedenkliche Entwicklung. Es ist wie überall, wo es um vulnerable Themen geht, gibt es Menschen, die sich nicht um der Hilfe willen damit beschäftigen, sondern zwecks Ausbeutung der Verwundeten Aufgaben übernehmen. So finden sich überall dort, wo Kinder zum lernen, spielen oder üben zusammenkommen, auch potentielle Missbrauchstäter ein. Ein exemplarisches Beispiel war Walter Bärsch, in den 80er Jahren Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, der während seiner Präsidentschaft auch 1983 den pädophilenfreundlichen «Arbeitskreises Humane Sexualität» (AHS) mitbegründet hatte. Erst nach seinem Tod 1996 wurde bekannt, dass Bärsch 1933 der SS beitrat. 1939 attestierte ihm sein Gruppenführer eine klare und eindeutige nationalsozialistische Weltanschauung (Link). In einem anderen jüngst publik gewordener Fall drängte es ebenfalls einen Täter sich als Kinderschützer zu tarnen. Es war der Fotograf Achim Lippoth, der für Innocent in Danger Fotos für eine umstrittene Kampagne zum Kinderschutz machte. Ich bloggte darüber hier.
Sich als Aufklärer und Kinderschützer zu geben, so wie es die beiden erwähnten Männer taten, um die eigene pädophile Neigung zu tarnen, funktioniert in vielfältiger Weise. Eine entdeckte ich zufällig, als ich für das Konzept einer Präsentation meiner Zeichnungen und Gedichte zu meiner Traumatherapie Bücher zum Thema Missbrauch durch Mütter und Frauen suchte.
Einschub: Ich schrieb: „um seine eigene pädophile Neigung zu tarnen“, und wusste zugleich, dass dies ungenau ist. Pädophilie ist keine Neigung, sondern ein deviantes Sexualverlangen, eine paraphile Störung; zudem ist, wer sie auslebt, ein Verbrecher. Allerdings sind nur 2% aller Kinderschänder pädophil. Die anderen 98% missbrauchen Kinder, weil sie es können und ihnen diese Verfügungsmacht einen Kick versetzt. Sie sammeln Kinderpornografie, weil sie verboten ist. Sie übertreten Grenzen, weil sie die Macht, es zu können, euphorisiert. So wie die wenigsten Menschenschinder und Folterer Sadisten sind. Ihnen genügt bereits der simple Reiz, moralische Grenzen überschreiten zu können.
Jedenfalls stieß ich bei meiner Recherche auf ein Angebot von Büchern, die vorgaben, authentische Berichte Überlebender von Kindesmissbrauch zu sein. Blätterte ich indes in der Buchvorschau, erlebte ich heftige Trigger, denn die vermeintlichen Sachbücher verfolgten offensichtlich nur den Zweck, Kinderpornografie auf „legale“ Weise zu verkaufen. Einige Autoren schrieben geradezu manisch einen Titel nach dem anderen. Bis zu einem Dutzend E-Books bieten manche an. Da gibt es weder Kläger noch Richter, denn eine Prüfstelle für Literatur gibt es nicht. Sie wäre wohl auch wenig effektiv, weil leicht zu unterlaufen.
Was mich im ersten Moment erschreckte war eher, dass es für kinderpornografische Literatur einen Markt gibt, der nicht via Darknet, sondern ganz legal bedient wird. Im zweiten Moment aber erinnerte ich mich an die Mutzenbacher, eigentlich ein Klassiker hebephiler literarischer Pornografie; allerdings ist die Mutzenbacher gegen diese Bücher harmlos. Das wirklich erschreckende aber ist, dass es eine beachtliche Zahl an Konsumenten solch legaler Machwerke gibt. Was heißt es gibt eine grundsätzliche Neigung in der Gesellschaft, Kinder auch als Sexualobjekte zu sehen.
Ein Buch illustriert die Pervertierung derlei Aufdeckungsliteratur schon seit 1996. Es heißt „Vater unser in der Hölle“ von Ulla Fröhling und gibt vor, über rituellen Missbrauch aufzuklären, ist aber voll von abstrusen Verschwörungstheorien und wirren psychologischen Annahmen. Es vertritt Ansichten, die in einer kleinen sektiererischen Blase kolportiert werden. Diese Blase wird von einer Handvoll Psychotherapeuten und kirchlichen Kreisen mit krausen Fallgeschichten belebt. Insbesondere das derzeit berühmtberüchtigte Bistum Münster veranstaltet zu diesem Thema alljährliche Seminare. Doch Fröhlings Buch ist mehr, es ist auch eine Sammlung kinderpornografischer Fallbeschreibungen, die erkennbar keinem aufdeckenden Zweck dienen, sondern allein zur Empörung der einen – der Exorzisten – und dem Aufgeilen der anderen – den Kinderschändern – gedacht sind.
Damit bestreite ich allerdings keinesfalls, dass es auch die Perversion der Perversion, nämlich Leib und Seele vernichtenden Kindesmissbrauch gibt. Doch um ihn zu bekämpfen ist derlei Literatur ungeeignet. Vielmehr bedient sie nur die voyeuristische Lustangst einer spießig satten Gesellschaft, die sich am Leid Schwächerer gruselt. Ja, Kindesmissbrauch ist längst auch Teil der allabendlichen TV-Unterhaltung.
Da war die „aufklärerische“ Perversion in den 80er Jahren seltsam ehrlicher. Man übersah die eigentliche Perversion – den Kindesmissbrauch – lediglich, indem man sie mal als Kunst, mal als Befreiung überhöhte. Feuilletonisten verbrämten ihre perverse Affinität zum sexualisierten und zumindest in ihrer Phantasie verfügbaren Kind, indem sie sich zum Beispiel über das künstlerisch revolutionäre Potential der nach heutiger Rechtsprechung eindeutig kinderpornografischen Fotos einer Irina Ionesco ausließen. Diese Zeit war für mich in jeder Hinsicht beengend; denn diese Haltung einer intellektuellen Elite triggerte und bedrohte mich. In dieser Zeit hätte ich es auch nie gewagt, mich als ein Betroffener zu zeigen, denn die Stimmung der pädophilen Lobby war gegenüber ihren Kritikern hoch aggressiv. Ja, es war eine Zeit, in der Kindesmissbrauch gar als therapeutisches Konzept bei schwer erziehbaren Jugendlichen empfohlen und geduldet wurde; heute unvorstellbar, doch dieser Irrsinn ist keine 40 Jahre her. Ich bloggte mehrmals hierzu (Link).
Dann änderten sich die Zeiten, die Schwulenbewegung hatte einen Teil ihrer Ziele erreicht und trennte sich von den Päderasten; die Frauenbewegung rückte den Missbrauch von Mädchen durch ihre Väter in den Fokus und ich blieb darob in eigener Sache weiter stumm. Kindesmissbrauch durch Frauen – speziell der von Jungen – war weiterhin kein Thema. Hin und wieder brachten ihn Frauen ins Gespräch, doch sie verstummten schnell. Es war nicht opportun. Und es ist heute noch nicht angebracht, darüber zu sprechen. Derweil bestehen die Strukturen, die Kindesmissbrauch ermöglichen fort, so wie skizziert in einer pervertierten „Aufdeckungsliteratur“ oder einer sensationsheischenden Berichterstattung, aber auch in einem ebenso hilflosen wie ungenügenden Kinderschutz, denn die Täter: Mütter, Väter, Onkel, Tanten, Schwestern, Brüder, Bekannte, Trainer, Lehrer, Priester, eben alle, die da aufscheinen, wo Kinder als die Schwächsten unter uns leben, begehen ihre Verbrechen immer noch weitgehend ungestört. Es fehlt in unserer Gesellschaft schlicht an Zivilcourage, den Kriminellen in der Verwandtschaft, Bekanntschaft und aus der Nachbarschaft Einhalt zu gebieten, sie auf ihre Schändlichkeit hin anzusprechen. Die Wirklichkeit ist allgemein gar so, dass derjenige, der einen offensichtlichen Mißstand anspricht, von den Tätern beschimpft und bedroht wird. Doch Zivilcourage bedeutet aber eben auch, sich grundsätzlich einzumischen, wenn einem Kind Gefahr droht. Bei mir gab es zum Beispiel Augen und Ohren im Haus, die sahen und hörten, dass der Vater ein Kinderschläger und Kinderschänder war, doch nie hatte einer an der Tür geläutet.