Hinter Milchglas – ein luzider Albtraum

milchglas

Unser Haus wird saniert. Der Vermieter baut neue Fenster, einen Aufzug und ins Dach Galeriewohnungen ein. Zudem wird die Fassade gedämmt. Es wird gebohrt und gehämmert und der Baustaub dringt durch alle Ritzen. Doch das alles ist noch irgendwie hinnehmbar. Schlimm für mich ist indes das Gerüst, das mit einem engmaschigen Schmutznetz bespannt ist; außerdem wurden die Fenster zum Schutz vor dem aufzutragenden Putz und späteren Farbauftrag mit semitransparenten Folien abgeschirmt. Dem Mietshaus wurde gewissermaßen ein Kondom übergestülpt. Dass diese Abschirmung für mich als posttraumatisiert Erkrankten eine extreme Belastung ist, mag ein ebenso an einer akuten PTBS Leidender nachvollziehen, doch kein gesunder Mensch vermag zu erahnen, wie tief eine solche Beeinträchtigung mein Gemüt erschüttert und beunruhigt.

Hier eine Aufzeichnung über die aktuellen Misslichkeiten aus meinem Therapietagebuch. Die Tortur hält, anders als ich Anfang Oktober noch vermutet hatte, wegen des zwischenzeitlichen Kälteeinbruchs voraussichtlich noch bis kurz vor Weihnachten an.

30. Sept. 2016

Wir hätten die neuen Isolierglasfenster in Bad und Toilette mit Milchglasfolie bekleben lassen können; doch ich sträubte mich dagegen. Milchglas war lange Zeit ein wesentliches Symbol in meinen Albträumen. Es waren entweder Räume, die hinter Milchglas lagen, in die ich nicht blicken konnte, oder ich war in einem solchen Raum eingeschlossen und konnte nicht hinausschauen. Jedenfalls geschah stets entweder auf der anderen Seite irgendetwas schreckliches, oder ich war mir im vermilchten Raum von einer Schrecklichkeit bedroht. Ich konnte beides weder abwehren oder beeinflussen. Doch nie löste sich der Schrecken auf, denn bewegte ich mich, kam ich nur in andere Räume, die mit Milchglas abgedeckt waren. Die meisten der Albträume hatten einen klinischen Bezug, waren Warte- oder Behandlungszimmer, und hatten mit Schmerzen und Blut zu tun. – Würde ich sie heute deuten, würde ich eher meine Situation zum Vater und seine blutigen Rutenstreiche auf meinem Hintern und die ebengleiche Qual meiner Geschwister hinter der Symbolik vermuten.

Statt Milchglasscheibe werden wir Jalousien in die Fensterlaibungen spannen, so dass wir wann immer wir wollen einen freien Blick nach draußen haben, und sich kein Albtraum in den Alltag einnisten kann.

Ich bin wieder auf Therapeutensuche, da ich nicht annehme, dass S.B. die notwendigen Papiere für die Krankenkasse noch in einer akzeptablen Frist fertigstellen, so dass eine Kostenerstattung noch möglich sein wird, da übers Jahr in den Augen der Kasse wohl auch die Dringlichkeit verblasst.

7. Okt. 2016 bis 3. November 2016

Am Montag als ich aufwache, sind die Fenster von außen mit semitransparenten Folien verklebt worden. Eine Zurüstung für die anstehenden weiteren Fassadenarbeiten. Nun hat mich das Milchglas also doch noch durch die kalte Küche umzingelt. War schon vorher der Blick nach außen durch ein, das Gerüst zur Straße abschirmendes Schuttfließ vermindert und vermilcht, so haben wir nun tatsächlich einen Milchglaseffekt. Der Albtraum ist zeitweilige Wirklichkeit und katapultiert mich in eine dysthyme Verfassung. Ich bin in mir verpuppt, gelähmt und möchte die Wohnung nicht mehr verlassen. Schreiben und zeichnen werden nun zu meiner stillen Verbindung mit dem unsichtbaren Außen. Ich fühle mich abgeschnitten, in einem unwirklichen Raum. Es ist ein Zustand der Orientierungslosigkeit, den ich auch beibehalte, sobald ich nach draußen gehe. Schwimmen, Gruppe, Einkaufen zwingen mich ja doch vor die Türe, dazu aber brauche ich viel Überwindung, um über die Schwelle aus der Türe zu treten. Das Gefühl des Kokons wird durch eine Staubschutztüre vor der Wohnungstüre noch verstärkt, zudem habe ich gegen den Baustaub die Wohnungstüre nochmal mit Dämmband zusätzlich verdichtet.

Der Zustand ist so schrecklich, dass ich erst heute, den 27. Oktober, die Kraft finde, weiter am Tagebuch zu schreiben. Es kommt mir vor, als wäre nichts geschehen, als wäre ich in meiner Verpuppung erstarrt. Ein naheliegender Gedanke an die Metamorphose macht mich nur grantig und will nicht weiter ausformuliert werden. – Ich leide, schmerzlos, ichlos, abwesend, und doch auch kreativ. Gottlob habe ich mein Zeichensystem, um doch noch durch den Kokon zu senden. Bedeutend dabei ist keine reale Kommunikation, sondern einzig die Selbstvergewisserung meiner Anwesenheit. Und hier – inzwischen ist es der 3. November und das Kondom umschließt immer noch das Haus, inzwischen noch dunkler, weil von Putzspritzern übersät … Und hier sollte ich besser von Meins oder noch besser vom multiplen Wir sprechen, denn die Selbstvergewisserung meiner Anwesenheit, gilt meiner zersplitterten Wesenheit und dem Gefühl, notwendigerweise meine Anteile versammelt zu haben, anstatt die Bruchstücke Meinerselbst in der künstlichen Novemberstimmung milchglasiger Illumination diffundierend entschwinden zu sehen, zu einem elenden Seelennebel, der nicht meiner ist. Ja, die Ahnen greifen aus ihren Grotten, kalt, nass und milchig – Grottenmolche eben. Sie erscheinen mir in dem trüben Licht, lauern in den Ecken, hinter den Spiegeln und verschatteten Winkeln.

Gestern erschreckte ich mich fürchterlich vor einem Teppich. Er lehnt zusammengerollt im Flur am Bücherschrank, denn irgendwann – eigentlich schon vor einem Monat – soll die Haustüre ausgewechselt werden. Ich erblicke ihn unvermittelt, sehe auf gesichtshöhe ein Gesicht im Muster, und mir stockt der Atem und zugleich springt mir das Herz aus der Brust und blockiert die Kehle. Dann erst kann ich nach Luft schnappen und heftig affektiv lauten und so den Schrecken aus mir blasen.

So ist die Stimmung, und so wirkt der klandestine Dauerstress ob meiner Einschließung in meinen wiederbelebten, ja vergegenwärtigten Albtraum vergangener Not und Hilflosigkeit, albhafter Weltferne und fehlendem Durchblicks, des in morbiden Umständen verhedderten Tolpatsches, der sein Gemüt mit Alkohol und Drogen dämpft, um in der bedrohlichen Kulisse seiner geschändeten Verworfenheit weiter zu fliehen und zu fliehen, immer auf der Flucht vor den Antatschern, Abgreifern, den weiblichen, mütterlichen und seltener männlichen. Auf der Flucht vor den Seelenfressern und dem eigenen Alb. Irgendwo, irgendwann hatte er sich in einem Milchglaslaboratorium selbst versenkt, wie ein Ouroboros selbst verschlungen und nicht mehr ausgespien; und nun speit es mich erneut an, versetzt und drängt mich in Absencen, Dämmerzustände, Halluzinationen; und gestern höre ich, dass die Folien noch für vier Wochen vor den Fenstern kleben sollen, und ich will’s und werd’s nicht glauben, bis die vier Wochen vorüber sind, denn anders kann ich es nicht aushalten, als in dem, alle Wirklichkeit verdrängenden Glauben, dass der Alb mit dem nächsten Morgen auch sein Ende haben wird. – Wiederbelebt, ja nunmehr auf magisch dingliche Weise in meinen Tag gekehrt, ist die stete Metapher meines allnächtlichen Albs, immer wieder und wieder, in mir, um mich, mit mir … Es scheint kein Entkommen mehr zu geben …

2 Gedanken zu “Hinter Milchglas – ein luzider Albtraum

  1. Ich habe die Folien schonmal abgerissen ohne nachzufragen…wenn die Bauarbeiter wieder an die Fenster ranmüssen, können sie neue Folie kleben.
    Niemand kann von Euch erwarten, dass Ihr 2 Monate oder länger alle Fenster zugeklebt ertragen müsst.

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