Rücksicht spendierte Lessing der deutschen Sprache (Kluge, Etymologisches Wörterbuch). Er übersetzte den Begriff „respect“, der zuvor aus dem französischen in unsere Sprache übernommen wurde. Respekt (lat. respectus) bedeutet zurückschauen, hinter sich sehen oder beachtenswert. Bin ich rücksichtslos missachte ich beachtenswertes, was gemeinhin als unhöflich wahrgenommen wird. Aber ich setze mich auch bewusst darüber hinweg, weil ich die Höflichkeit in diesem Fall beiseite wische.
Missbrauchsopfer sind gemeinhin viel zu lange respektvoll … gegenüber den Tätern, der Familie, der Gesellschaft. Wir schauen stets zurück, ob wir niemanden irritierten und uns keiner einen bösen Blick in den Rücken schickt. Ich meine, ich habe damit weitgehend aufgehört; bin mir freilich darob nicht ganz sicher. Um beispielsweise die Gefühle meiner Geschwister gegenüber den Eltern nicht zu verletzen, verriet ich ihnen auch als Erwachsener nicht, was mir die Mutter und der Vater mit dem sexuellen Missbrauch antaten. Ich nahm hier auf sie Rücksicht, aber nicht auf mich.
Die Rücksicht mir gegenüber zu vergessen, ist typisch für mich und für Opfer von Misshandlung und Missbrauch. Rücksicht hat etwas mit Selbstfürsorge zu tun. Ohne Rücksicht vernachlässige ich mich häufig in meinen vitalen Bedürfnissen. Ich gebe mir kein Wasser, wenn ich durstig bin; gebe mir nichts zu essen, wenn ich hungrig bin; lasse mich nicht schlafen, wenn ich müde bin; sage nicht nein, wenn ich nein sagen will; ja ich schicke mich nicht mal zum pinkeln, wenn ich dringend muss, als wäre mein Leib nicht Meins. Ich bin heute immer noch dabei, die einfachste Form der Selbstfürsorge einzuüben und zu beachten, und es verlangt von mir viel Aufmerksamkeit, damit ich mich nicht selbst vergesse. Rücksicht gegenüber anderen, ja, die ist mir wohlfeil. Du hast Durst, ich bringe Dir Wasser; du hast Sorgen, kein Problem ich tröste dich; ich löse mich auf, damit du nicht durch meine Präsenz gestört wirst, so bin ich ganz für dich da, ohne da zu sein.
Rücksichtslos zu sein heißt aber auch sehr präzise, nicht zurückzuschauen. Schaue ich nicht zurück, schaue ich nach vorne, in die Richtung, in die ich mich bewege. Ich schaue den Augenblick, ich bin präsent, und gerade das ist es, was meine PTBS von mir fordert. Sie überfällt mich mit Flashbacks und wirft mich rücksichtslos in die Situation des Missbrauches und der Misshandlung. Der Schrecken ist dann gegenwärtig. Ich spüre und rieche die Brunft der Mutter und die Geilheit des Vaters. Ich spüre den sengenden Schmerz auf meinem Gesäß, den dröhnenden Schlag gegen meinen Schädel. Sehe das Vatertier mich anspringen. Das ist nicht mal brutale Rücksicht, sondern bittere Realität, so zumindest in meinem Erleben und für eine lange Weile, bis ich wieder zu Atem komme, bis ich mir gegen den Kopf schlage, laut Aua-aua schreie, mir mein Riechsalz unter die Nase halte und wie betäubt nach festem Grund für Leib und Seele suche.
Rücksichtslos zu sein heißt also auch, dem Wahnsinn der Flashbacks auszuweichen, indem ich ihn vorwegnehme, indem ich über den Wahnsinn spreche oder schreibe, erbarmungslos schreibe. Es gibt kein erbarmen, in dem was ich schreibe. Meine Schändung zu benennen ist gnadenlos. Ich verschone mich nicht, ich nehme dabei keine Rücksicht auf mich, denn sobald ich zurückschrecke, gebe ich den Tätern Raum. Der einzige Respekt, den ich mir selbst dabei erweise, ist, dass ich mich bemühe, fürsorglich auf mich selbst zu schauen, und nicht die Worte zu wählen, die manchmal aus mir drängen wollen, um die Täter und ihre Taten in übelster Weise zu beschimpfen; denn dadurch machte ich mich mit ihrer Schändlichkeit gemein, und das will ich niemals zulassen, dass sie mich mit ihr einholen. Zudem gibt es keinen Schimpf, der ihrer Niedertracht nur annähernd gerecht werden könnte. Da ist eine gefasste Darstellung viel treffender, denn sie zwingt zum Bild und seiner Betrachtung, während die zum Ausdruck gebrachte Abscheu die Schändlichkeit bereits verdunkelt, noch ehe sie gesehen wird.
Rücksichtslosigkeit meint aber auch, gegenüber mir selbst auf Rücksicht bei der Rücksicht zu verzichten. Das heißt den Respekt vor meiner Geschichte zu verlieren und hinzusehen, wo ich sehen kann. Ich mag manchmal Angst davor haben, zu sehen; doch egal, sehe ich angstvoll, doch sehe ich. Nur so wird aus der Rücksicht eine Hinsicht, ein Hinschauen, das das Trauma erhellt, so dass ich die Trümmer, die meine Seele erschlugen, von den Trümmern meiner Seele zu trennen vermag. Dann erkenne ich die Taten und ihre Folgen, dann erkenne ich ein Stück weit Meins und finde den Standpunkt, von dem aus ich voran blicken kann.
Gewiss aber bedeutet Rücksichtslosigkeit im Rahmen meines Blogs auch gegenüber dem Leser rücksichtslos zu sein, indem ich ihn mit meiner Geschichte konfrontiere und damit stellenweise erschrecke. Diese Rücksichtslosigkeit ist mir durchaus bewusst, doch würde ich es ändern, würde ich gegen mich handeln und mich dabei erneut übersehen. Deshalb habe ich auch bei der Einleitung zu meinem Blog geschrieben:
Warnung: Artikel in diesem Forum können Betroffene triggern. Es gibt keine Triggerwarnungen oder Spoiler. Darum sei, falls Du selbst betroffen bist, bitte achtsam und selbstfürsorglich mit Dir und lies nicht, was Dich triggern könnte.
Denn nur so kann ich ohne Schere im Kopf schreiben, was mich angeht und mich bewegt.
Die Fähigkeit zur Rücksichtslosigkeit, zum Verzicht auf Um- und Rücksicht, ist für mich eine Leistung der Salutogenese. Eine Fertigkeit, die mich stärkt und meine PTBS in Schranken weist, auch wenn Artikel wie dieser mich immens fordern und meine psychosomatischen Störungen belebt, so dass das Schreiben selbst zur Belastung wird. Doch, da ist etwas in mir, das hinsehen und dazu rücksichtslos – das heißt ohne Betrachtung der Umstände – zurückschauen muss, damit es nach vorne blicken kann. Und diesem Drängen Raum zu geben, hat wiederum sehr viel mit Selbstfürsorglichkeit zu tun.
Anlass zu diesem Blogbeitrag war ein Artikel von Luise Kakadu aus dem Blog „Missbrauch, Folgen und der Weg“. Den Beitrag von Luise können Sie hier nachlesen: Da ham mer wieder eine … Zündung.