Offener Brief an Kirchengemeinden

San Guiseppe Rom

Kirche gibt es seit bald 2000 Jahren, sofern man als Stiftungstag der christlichen Kirche den Tag des letzten Abendmahls ansetzt. In den 2000 Jahren katholischer und 500 Jahren evangelischer Kirche hat der Klerus gelernt, Skandale auszusitzen, abzuwehren und abzuwickeln, so dass außer einer vorübergehend üblen Fama nichts bleibt. Ja, auch die üble Fama verstehen sie, alsbald in ein Ruhmesblatt zu wenden. So wie die Kirchen es derzeit mit den aufgedeckten sexualisierten Gewalttaten ihres Personals gegenüber Kindern beinahe schon geschafft hatten. Man hatte den Missbrauch aufgearbeitet, man hatte fromme Abkommen mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) zum Kinderschutz geschlossen, hatte sich am Fonds institutioneller Missbrauch beteiligt, saß an runden und eckigen Tischen, kürte mit Bischof Ackermann einen eigenen Missbrauchsbeauftragten und saß schließlich bei der jüngsten Veranstaltung der Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs(UKASK) mit auf dem Podium in Berlin und diskutierte mit „Betroffenen“, gemeint sind die Opfer, die Überlebenden klerikaler Sexualverbrechen, unter dem Thema „Kirchen und ihre Verantwortung zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ (nachzuhören hier).

Ja, da war schon erster Glanz zu sehen, mit dem sich die Kirchenvertreter schmückten, und sie waren schon dabei ihn fleißig zum Glorienschein aufzupolieren, als der aktuell aufgedeckte Missbrauchsskandal von Pittsburgh den so schwer erarbeiteten und mit Ablassalmosen an die Opfer bezahlten guten Ruf der Kirchen, insbesondere der katholischen Kirche, erneut beschmutzte. Eine Grand Jury im Bundesstaat Pennsylvania ermittelte mithilfe des FBI in über 1000 Missbrauchsfällen – fast ausschließlich Jungen – der katholischen Kirche und beschlagnahmte dazu tausende von Akten. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Diözesen von Greensburg und Pittsburgh den Kindesmissbrauch von 119 Priestern systematisch vertuschten, die Opfer unter Druck setzten, zu schweigen, und die Täter schützten. Sie deckte auch auf, dass es Missbrauchsringe gab, die missbrauchte „favorisierte“ Jungen vermittelten. Ja, es fand in der Kirche von Pittsburgh ritueller oder besser gesagt satanischer Missbrauch statt. Ein Missbrauchsgeschehen, das die Kirche selbst stets außerhalb ihres Weichbildes phantasiert und für das sie Exorzisten bereitstellt und Tagungen abhält. (Die Namen der klerikalen Verbrecher sind hier nachzulesen – eine Rechtsnorm, die ich für unser Land vermisse.)

Gegen die Veröffentlichung des Berichts wehrte sich die Kirche bis zum Obersten Gericht von Pennsylvania; das letztlich die Veröffentlichung mit vielen Schwärzungen erlaubte. Trotzdem ist der Bericht ein Dokument der Verkommenheit und Scheinheiligkeit einer durch und durch verdorbenen Institution.

Und was macht die Kirche? Sie gelobt Besserung und Transparenz und nötigt ihren Opfern und dem lieben Gott Vergebung ab. Personalisiert ist dieserart Heuchelei in Seiner Heiligkeit Papst Franziskus. Nachdem der Boston Globe 2002 den Kindesmissbrauch durch 87 Priester im Bistum Boston aufdeckte, heuchelte die Kirche Besserung. Als 2015 der oscarprämierte Film Spotlight den Missbrauchsfall von Boston aufgriff, empfand Radio Vatikan den Film als „ehrlich“ und „dringend“ und erklärte, dass Spotlight der katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten helfe, ihre Sünden zuzugeben und die Konsequenzen dafür zu tragen.

Auch in diesem Statement zeigt sich der klerikale Dünkel, der über seinen eigenen Schatten nicht hinausdenken will, denn die Überlebenden der sexualisierten Gewalt, der Erniedrigung durch Leugnen der an ihnen begangenen Verbrechen scheinen auch in diesem Ablass nicht auf; ja, der fromme Mann denkt an sich selbst zuerst! Diese Arroganz setzt sich auch in den einzelnen Kirchengemeinden fort, wobei ich keinen Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten mache. Auch in den Kirchengemeinden herrscht der Herdentrieb vor; die Schäflein scharen sich um ihren Hirten und schließen das schwarze Schaf, das missbrauchte Kind aus; vor allem dann, wenn es es wagt, das geschehene Verbrechen zu offenbaren.

Aus diesem Grund entstand der „Offene Brief an Kirchengemeinden, die von sexuellem Missbrauch durch Priester oder Mitarbeiter betroffen sind“, der sich nicht an den Klerus, sondern an die „Schäflein“, die Gläubigen, wendet, und sie ermuntert, selbst auf Aufklärung und Aufdeckung der Fälle in ihrer Gemeinde zu drängen und sich hierfür Hilfe von außerhalb des Klerus zu holen; denn nur so kann das Verbrechen erhellt und nach dem Prozess von Aufdeckung, Anerkenntnis, Trauer und Verarbeitung die Gemeinde wieder eine Gemeinde und kein Ort von Mokita werden, in dem jeder weiß, aber niemand über die Schandtat des Klerus spricht.

Ich veröffentliche hier den Text des Offenen Briefes (pdf-download hier) und verlinke auf einen Blogbeitrag, in dem nicht-die-einzige, eine Überlebende, beschreibt, wie beschämend und retraumatisierend für sie, das Schweigen und die Weigerung der Gemeinde die Verbrechen des Pfarrers anzuerkennen und aufzuarbeiten ist (Blog siehe hier).

Das illustrierende Bild zum Beitrag zeigt die Kirche San Giuseppe da Copertino in Rom. Sie ist die Titularkirche Kardinals Donald Wuerl, der während seiner Amtszeit als Bischof von Pittsburgh (1988-2006) aktiv an der Vertuschung der Sexualverbrechen seines Klerus beteiligt war. Am 30. August stürzte die Decke seiner Kirche herab.

An die Bischöfe beider christlicher Kirchen, Gemeinden, Presse und Öffentlichkeit

Die Aufarbeitung sexueller Gewalt durch Kirchen-Mitarbeiter/innen – Bislang eine kollektive Retraumatisierung. Was muss sich ändern?

Offener Brief an Kirchengemeinden, die von sexuellem Missbrauch durch Priester oder Mitarbeiter betroffen sind

Sehr geehrte Damen und Herren,

Die weltweit erste Untersuchung sexueller Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche durch eine staatliche Stelle hat Erschreckendes zutage gefördert: Es wurde missbraucht, verharmlost und vertuscht bis in die höchsten Ebenen. Leider gibt es keinen Grund zu glauben, dass das in Deutschland anders aussähe. Entsprechend werden Whistle-Blower – und das sind Missbrauchs-Opfer, die von der Kirche Rechenschaft und Genugtuung verlangen – von den deutschen Kirchen behandelt. Von evangelischer wie katholischer Kirche.

Opfer sexueller Gewalt durch Kirchen-Angehörige sind auch in Deutschland Bittsteller, die abgewehrt und mit heimlichen Zahlungen abgespeist werden, damit die Geschehnisse anschließend wieder mit dem Mantel des Schweigens verhüllt werden können. Das muss ein Ende haben. Die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch durch Priester und kirchliche Mitarbeiter muss in eine neue Phase treten. Sie braucht die aktive und proaktive Mitarbeit der Gemeinden und aktuellen Priester, Diakone und engagierten Laien.

Die Berichte Betroffener zeigen überall opferfeindliche Muster. Das hat u. a. das öffentliche Hearing „Kirchen und ihre Verantwortung zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ am 27. Juni 2018 gezeigt.* Nur Menschen mit starken Nerven, viel Energie und Unterstützung können sich auf diesen aufreibenden und harten Weg machen, von der Kirche Genugtuung zu fordern, wenn sie als Kinder von Mitarbeitern der Kirche sexualisiert misshandelt wurden. Die meisten Menschen nehmen lieber Abstand, und das ist kirchlicherseits auch so gewollt.

Die bisherigen „Prozesse“, die die Kirche eher den Betroffenen als den Tätern gemacht hat, kann und muss man als kollektive Retraumatisierung und sekundäre Viktimisierung der Opfer bezeichnen: Unbeantwortete Briefe, „Verhöre“, bei denen z. T. Staatsanwälte im Ruhestand eingesetzt werden, Juristen in den kirchlichen Missbrauchs-Kommissionen (deren Mitglieder meist mit dem Thema sexuelle Gewalt nicht vertraut sind), Weitergabe von Daten an Täter. Und dann – nur, wenn Verschleppung und Abwehr nicht funktionierten – eine heimliche „Anerkennungszahlung“ lächerlichen Ausmaßes. Eine sekundäre Viktimisierung der Opfer ist so fast vorprogrammiert.

Schöne Worte, „Scham und Trauer“ oder päpstliche Briefe helfen nicht. Es braucht:

1) Eine zentrale Dokumentation der Missbrauchsfälle, öffentlich zugänglich

2) Unabhängige Missbrauchs-Kommissionen, die nach Standards arbeiten

3) Die Suche nach weiteren Opfern, wenn sich eine Gemeinde als betroffen erweist

4) Konkrete Angebote der Unterstützung (statt Diskreditierung und Diskriminierung!) an diese –

alles andere ist unterlassene Hilfeleistung!

5) Angemessene Entschädigungen

6) Den ehrlichen Willen zu Aufklärung der Taten und Unterstützung der Betroffenen

Dazu müssen zuerst die bisher anerkannten Opfer erneut gehört werden, und zwar mit Unterstützung unabhängiger Mediatoren/innen. Die Fälle gehören auf die Homepage der Gemeinden, mit Angabe einer UNABHÄNGIGEN Stelle, an die sich weitere Opfer wenden können, und Hilfsangeboten. Die Gemeinde-Mitglieder brauchen Hilfe in Form von Seelsorge und Unterstützung von außen, um die Tatsache zu verarbeiten, dass ihre Spiritualität von einem Kindes-Missbraucher ebenfalls missbraucht wurde. Sie können sonst die Geschehnisse nicht wahrhaben und müssen Opfer weiter ausgrenzen.

Wir fordern Taten statt Worte. Endlich.

Absender: Betroffenen-Initiativen, Einzelbetroffene (s. u.: Unterzeichnende)

* Informationen zum Hearing hier

Rückfragen und Rückmeldungen an:

nicht-die-einzige@web.de

Unterschrieben von:

Tina Dewes, Betroffenenbeirat ergänzendes Hilfesystem EHS/FSM und Hannah Stiftung
Christian Fischer, Initiative Ehemaliger Johanneum Homburg
Bernd Held, Initiative Ehemaliger Johanneum Homburg
Matthias Katsch, ECKIGER TISCH e. V.
Heiner Keupp, Mitglied der Unabhängigen Aufarbeitungskommission
Anselm Kohn, Initiative Missbrauch in Ahrensburg
Matthias Mala, Schriftsteller
Hans-Martin Münch
Astrid Mayer, Betroffene Gemeinde Unterboihingen im Bistum Rottenburg-Stuttgart
Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, Opfer von sexualisierter Misshandlung im familiären Umfeld, ehrenamtliche Mitarbeit beim Fonds Sexueller Missbrauch
Alexander Probst, Betroffener „Domspatzen“
Hermann Schell
Heiko Schnitzler, ECKIGER TISCH BONN e. V.
Thomas Schnitzler, Betroffener Bistum Trier
Henning Stein, Betroffenenbeirat ergänzendes Hilfesystem
Jürgen Sterk, Betroffener Bistum Freiburg
Sylvia Witte, Betroffene Redemptoristen, 1. Vorsitzende MoJoRed e. V. und Mitglied im Betroffenenbeirat EHS/FSM
Detlev Zander, Betroffener und Sprecher von „Missbrauch in der Brüdergemeinde Korntal“

5 Gedanken zu “Offener Brief an Kirchengemeinden

    • Grundsätzlich stimme ich diesem Gedanken zu. Allerdings ist diese Forderung papieren. Denn für Mord gibt es in der Regel eine Fülle von Indizien, die die begangene Straftat auch noch nach Jahren beweisen und dem Täter zugeordnet werden können. Bei Missbrauch gibt es schon nach kurzer Zeit außer der seelischen Zerstörung der Überlebenden keine verwertbaren Beweise. Insofern ist die derzeit geltende 30jährige Verjährungsfrist ausreichend und in der Praxis häufig schon überdehnt. Gleichwohl halte ich sie für richtig, denn für Opfer ist die öffentliche Anklage der Täter auch ein heilsamer Akt.

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      • Nur erinnert man mit DIS auch erst nach vielen Jahren. Damit kommt doch jeder Täter der grausam genug war frei davon. Das finde ich einfach nicht richtig. Denn jetzt wo Flashbacks und Erinnerungen Gesichter und Taten zeigen, kann ich nie ne Genugtuung bekommen.
        Und selbst wenn es Beweis Videos geben würde, verjährt ist verjährt.
        Ach die manchmal so lächerlichen Strafen, wenn es tatsächlich zu Verurteilung kommt sind weder eine Genugtuung noch bieten sie lange genug Schutz für andere Kinder…

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  1. Die Verjährungsfrist im Straftrecht beträgt keine 30 Jahre! Das wird fälschlicherweise oft so dargestellt. Hier haben wir eine Erklärung dazu ausgearbeitet: https://tour41.net/aktuelle-gesetzeslage/. Noch ein Unding: Sogar Missbrauch mit Todesfolge verjährt nach §176b StGB i.V. §78 III Nr.1-2. Ja, ein sexueller Missbrauch ist nach Jahren im strafrechtlichen Sinne sehr schwer zu beweisen. Aber die Standards der Strafgerichtsbarkeit liegen hier sehr hoch! In Deutschland wird niemand ohne stichhaltige Beweise verurteilt; warum wird hier an einer Verjährung festgehalten? Daher ist die Verjährungsfrist hier ein völlig unangemessenes überflüssiges Hindernis!…Täter kennen die Rechtslage oft sehr gut.
    Warum nimmt man uns schon alleine die Möglichkeit es selbst zu entscheiden, selbst nach langer Zeit, den Weg der Anzeige zu gehen? Ich möchte die Tat wenigsten „anzeigen können“! Wie oft kommt bei der Frage bei Antragstellung von OEG die Gegenfrage ob angezeigt wurde? Danach der Rat auch den OEG Antrag ohne Anzeige oder Verurteilung besser erst gar nicht zustellen. Und was ist das für ein Unding, dass einem (wenn auch in den wenigsten Fällen) nach dem OEG geglaubt wird. Dann sitzt du da, der OEG-Antrag ist durch, man „glaubt“ dir. Aber Namen nennen? Darfst du nicht! Anzeigen? Darfst du nicht! Der/die Täter können dir jederzeit begegnen; frei und mit sauberem Führungszeugnis, denn deine Aussagen (und ggf. die deiner Zeugen) sind strafrechtlich nicht verwertbar, ja dürfen noch nicht mal in der Akte bleiben, als wäre nichts gewesen!? Das ist Täterschutz!!!

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  2. Ja, genau meine Meinung! Das ist Täter Schutz! Und für mich unverständlich und überhaupt gar nicht nachvollziehbar!
    Zumal die Täter ungestraft und ungehindert die nächsten Kinder zu Opfern machen, die sich allerdings auch nicht eher erinnern können und nicht anzeigen. Also haben sie freie Hand und nur der pure Zufall kann ihn vielleicht stoppen. Aber das geschieht ja so gut wie nie, weil alle die Augen verschließen und nichts sehen wollen. Kinder weinen und schreien ist ja normal, wer mischt sich schon irgendwo ein und riskiert Auseinandersetzungen? Eine Seltenheit!

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