Ein Elefant im Zimmer

Heute arbeiteten wir in der Traumatherapie die letzte Stunde auf, in der wir nach der Methode Imagery Rescripting (ImRs) versuchten, einen besonders widerlichen Akt des Missbrauchs emotional zu überzeichnen, auf dass er sein Triggerpotential verlieren möge. Dabei sprachen wir auch über meine damalige Situation, dass ich von keinem Erwachsenen unterstützt wurde beziehungsweise sich niemand für mich und meine Geschwister einsetzte. Dabei gab es durchaus Erwachsene, die sich um uns sorgten und uns ermutigten; doch sie verschwanden alle bald wieder von der Bildfläche. So kam es auch, dass ich als Kind nicht mehr auf mögliche Hilfe von außen vertraute. Ich erwartete nichts …

Manchen, so meinte meine Therapeutin, müsse unsere Situation damals doch aufgefallen sein. Doch ich denke, dass es die meisten nicht bemerkten, und falls sie dennoch etwas ahnten, ihre Befürchtungen beiseiteschoben; denn wäre, was nicht sein durfte, tatsächlich gewesen, so hätten sie intervenieren müssen, und das war damals wie heute verpönt und hätte Zivilcourage erfordert. Lieber verkrümelte man sich, brach den Kontakt zu den Eltern ab und hatte ein Problem weniger.

Auch gab ich zu bedenken, dass die meisten Leute Anzeichen von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch nicht erkennen würden. So etwa auch im Fall Lügde, wo mehrere Kinderschänder auf einem Campingplatz Dutzende Kinder über Jahrzehnte vergewaltigen konnten, ohne dass dies einem Camper auffiel oder besser gesagt auffallen wollte. Einer, der das offensichtliche Verhalten des Verbrechers nicht übersah, meldete das Geschehen der Polizei, die allerdings nichts unternahm. Dafür musste er sich vom Jugendamt noch sagen lassen, dass er mit solchen „Behauptungen“ vorsichtig sein sollte.

Vornehmlich ging es bei der Erwähnung solcher Umstände, um die Reflektion meiner Situation als Kind, seine Hilflosigkeit und seine Einsamkeit. Denn dass wir vier Geschwister vernachlässigt wurden, konnte jedermann erkennen, der mit der Familie zu tun hatte. Über fünf bis sieben Jahre waren wir im Waisenhaus, während die Eltern ein Leben als Boheme führten. Wir kamen dann nacheinander wieder nachhause, weil Kindergeld und Lehrlingssalär den lässigen Lebensstil der Eltern ergänzten. Die wenigen Freunde der Eltern machten sich hierüber keine vernehmbaren Gedanken. Jedenfalls wunderte sich niemand darüber, dass die vier Kinder sich gerade mal 18 qm als Kinderzimmer teilten, das zugleich Esszimmer für die ganze Familie war und in dem es keine Schublade für eigenes Spielzeug gab. Das einzig Eigene jeden Kindes lag in seinem Ranzen.

Damals lernte ich zuhause Hunger kennen. Der Vater hungerte nicht. Seine Freunde sahen auch nicht, wie er vor meiner Schwester und mir Spargel im Dressing aß und uns zeigte, wie man tischgerecht die Spargelstange vom Teller gabelte und senkrecht im Schlund versenkte. Wir durften danach das Dressing trinken. Ebenso grillte er für sich gerne ein Huhn oder eine Forelle. Wir durften ihm zusehen und, nachdem wir seinen Tisch abgeräumt hatten, die Knochen in der Küche abfieseln oder die Kruste aus Hühnerblut und Fett von der Auffangschale naschen. Seine Freunde hätten bemerken können, dass die Eltern voll im Saft standen, während ihre Kinder mager aus der Wäsche guckten. Sie hätten auch erkennen können, dass wir uns nicht wie andere Kinder verhielten, sondern fast immer daheim und seltsam auf die Eltern fixiert waren. Sie hätten auch bemerken können, dass der Vater meine Schwester in Schritt fasste, wenn er sie auf seinen Schoß zog und die Mutter ein eigenartiges Verhältnis zu mir pflegte. Ebenso hätten sie sich Gedanken machen können, während sie mit den Eltern zechten, dass die Kinder an ihren Gelagen häufig still beteiligt waren.

Einmal züchtigte der Vater meine 15jährige Schwester mit dem Rohrstock, während ein Freund von ihm mit der Mutter und mir im Wohnzimmer saß. Es war eine lange und sehr blutige Exekution, dreißig Rutenhiebe. Der Freund des Hauses saß mit betroffenem Gesicht am Tisch. Als der Vater dann aus dem Nebenraum kam, zechte er mit ihm, als sei nichts vorgefallen. Es war offensichtlich, dass in unserem Wohnzimmer ein Elefant stand, doch niemand wollte ihn sehen und schon gar nicht darüber sprechen.

Physischer und psychischer Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung geschehen nicht in uneinsichtigen Verließen. Kann man auch den eigentlichen Missbrauch selten sehen, so sind die Zeichen, dass in einer Familie Kinder misshandelt oder missbraucht werden, jedoch durchaus erkennbar. Doch all jene Erwachsene, die sensibel genug waren, zu sehen, dass in dieser Familie etwas mit den Kindern nicht stimmte, unternahmen nichts, sondern verschwanden und ließen uns Kinder mit unseren Schändern allein.

Es war damals Anfang der 60er Jahre keine andere Situation als heute. Gut, das Thema wurde kaum öffentlich behandelt und man schob es schnell zur Seite, doch dass so etwas geschah, war mehr oder minder allen bewusst. Vor allem, dass es nicht nur der schwarze Mann da draußen tat, sondern dass der Missbrauch mitten in den Familien geschah, war kein Geheimnis. So kann ich mich noch an die Diskussion erinnern, als Ende der 60er Jahren das Fußgängerschild „Mann mit Kind“ in „Frau mit Kind“ ausgetauscht wurde, weil manche die Idee hegten, damit könne der Kindesmissbrauch eingedämmt werden. Damals meldeten sich genügend zu Wort, die darauf hinwiesen, dass die Vergewaltigung von Kindern seltener durch Fremde als vielmehr durch Verwandte und Bekannte im Umfeld der Kinder stattfinden würde. – Der einzige veränderte Umstand zu damals ist heute, dass derzeit keine Partei sexuellen Verkehr zwischen Kindern und Erwachsenen gutheißt; selbst dann nicht wenn so Renate Künast am 29. Mai 1986: „Komma, keine Gewalt im Spiel ist!“

 

Heute bald 60 Jahre später, stehen wir vor dem noch immergleichen Problem. Die allermeisten Kinder erfahren Missbrauch in ihrer nächsten Umgebung, in der Familie, der Schule und bei Freizeitaktivitäten von der Musikschule bis zum Sportverein. Das heißt es geschieht vor unser aller Nasen und nach wie vor blicken wir weg, reden uns ein, dass da kein Elefant zu sehen ist. Also fährt der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) lieber Kampagnen gegen Missbrauch in den Kirchen, beim Sport, durch satanistische Kreise oder den Missbrauch mit dem Missbrauch durch Nazis etc. pp. Doch gegen den Missbrauch in den Familien erscheint er hilflos. Das einzige, was er hier zu bieten hat, ist das Hilfetelefon sexueller Missbrauch. – Das nenne ich Indolenz, also Gleichgültigkeit gegenüber dem Schmerz und das Seelenleid von Kindern.

Wollen wir als Gesellschaft daran etwas ändern, muss es eine breite Kampagne geben, die Anzeichen von Kindesmissbrauch bekannt und Hilfsangebote öffentlich macht. Wir dürfen es nicht dabei belassen, unsere Hilflosigkeit hinter Statistiken zu verbergen. Wir wissen, das Lebensrisiko eines Kindes ist heute sein Umfeld, in das es hineingeboren wird. Wir versuchen das mit allen möglichen Angeboten und viel Steuergeld zu verbessern, aber wir tun nichts dagegen, dass in diesem Umfeld jedes siebte Kind sexueller, körperlicher oder seelischer Gewalt ausgesetzt wird. Dagegen haben wir es geschafft, dass in Restaurants nicht mehr geraucht werden darf, aber wir schaffen es nicht, dass es selbstverständlich ist, wann immer jemand den Verdacht von Gewalt gegen Kinder hegt, er seinen Verdacht umgehend äußert. Nicht die Ansprache eines Verdachtes sollte eine Person beschämen, sondern ihr Schweigen darüber. Schaffen wir das, dann ist uns wirklich etwas im Kampf gegen Kindesmissbrauch gelungen …

2 Gedanken zu “Ein Elefant im Zimmer

  1. Danke fuer Deinen Beitrag…..in ALLEM stimme ich Dir zu…..Du schreibst klasse…..mir fehlen die Worte dafuer!
    Ich kann mein Empfinden einfach nicht in Worte fassen…..deshalb les ich alle Deine Beitraege!
    LG

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