Traumatische Erlebnisse schreiben sich tief in die Seele ein. Wann und ob sie vom Dort und Damals wieder zum Hier und Jetzt werden, weiß niemand. Irgendein Trigger, egal ob ein Bild oder Duft, eine Geschichte oder Handlung vermögen das Erlebte wieder zu heben und eine Seele zu überwältigen, so als wäre die Vergangenheit wieder gegenwärtig; selbst wenn viele Jahrzehnte dazwischen liegen.
Meine Schwiegermutter wurde als achtjähriges Mädchen sexuell missbraucht. Der Täter war ein Hausbewohner. Als ihre Mutter den Missbrauch aufdeckte, wurde der Sexualverbrecher angeklagt und verurteilt. Das war 1934. Vierzig Jahre später, als ich mit meiner Frau verheiratet war, erwähnte die Schwiegermutter mir gegenüber das Missbrauchsgeschehen. Im Laufe der Zeit kam sie sporadisch immer wieder darauf zu sprechen. Das Geschehen war ihr präsent geblieben; wesentlich präsenter als die Bombardierung ihrer Heimatstadt, die ab 1942 einsetzte. Hiervon erzählte sie so gut wie nichts.
Nach dem Tod ihres Mannes vor zwölf Jahren übersiedelte die Schwiegermutter ins Altenwohnstift Augustinum. Seit zwei Jahren leidet sie an einer vaskulären Demenz ersten Grades. Nach einem zweiten Schenkelhalsbruch vor einem Jahr ist sie hinfällig und benötigt Hilfe beim Waschen und Ankleiden. Seitdem klagte sie häufiger, dass ihr die Intimwäsche durch das Pflegepersonal lästig sei, insbesondere die Wäsche durch männliches Personal war ihr unangenehm, weshalb sie sie häufig ablehnte. Anfang dieses Jahres wurde sie nach Herz- und Atemstillstand reanimiert. Seitdem benötigt sie noch mehr Hilfe. Gleichzeitig begann sie öfter darüber zu klagen, dass sie ihre Intimwäsche nicht mehr alleine verrichten konnte. Es war ihr ein Problem, dass sie erdulden musste. Öfter meinte sie: „Ich bin ja ned g’schamig, aber i mag’s halt ned. Lieber tät ich’s selber.“ Indem sie uns so davon berichtete, baute sie wohl ihr Unwohlsein über diese besondere Hilflosigkeit ab.
Doch seit Anfang Mai veränderte sich die Situation, häufiger als sonst erzählte sie von einem Pfleger, der sie besonders gründlich untenherum waschen wollte. Wir rieten ihr, sich das zu verbieten und eine Pflegerin als Hilfe verlangen. Doch Ende Mai spitzte sich die Situation zu.
Hierauf schrieb meine Frau an die Wohnbereichsleitung des Augustinum nachstehendes FAX.
Indezente Körperpflege meiner Mutter
Sehr geehrter Herr (Wohnbereichsleiter),
schon seit längerer Zeit klagt meine Mutter über einen Pfleger, der sie in grenzwertiger Weise im Intimbereich wäscht, wo sie es lieber alleine machen möchte.
Gestern aber berichtete sie mir derart unglaubliches, dass es gerade deshalb glaubhaft erscheint. Sie wiederholte die Schilderung gleichbleibend.
Bei der gestrigen Wäsche hätte sie der Pfleger (sie meint stets dieselbe Person) nackt ausgezogen und über einen längeren Zeitraum unbekleidet belassen, obwohl sie es nicht wollte. Gegen ihren Protest erklärte der Pfleger den Zweck seiner Maßnahme wie folgt: „Damit kann ich das besser beurteilen, warum Sie so schlecht hören.“
Wir bitten Sie dringend, ab sofort die notwendige Diskretion bei der Leibwäsche einzuhalten und dafür Sorge zu tragen, dass die Würde meiner Mutter respektiert wird.
Eine Kopie des FAX schickte meine Frau an die Berufsbetreuerin ihrer Mutter mit folgenden Zeilen:
Liebe Frau (Berufsbetreuerin),
mit diesem FAX sende ich Ihnen eine Kopie meines FAX an Herrn … vom Augustinum hinsichtlich einer offensichtlich übergriffigen Pflegeperson. Meine Mutter durchlitt als achtjähriges Mädchen eine Missbrauchserfahrung, die ihr lebenslänglich zusetzte und die durch die jüngsten Geschehnisse wieder belebt wird.
Ich hatte gestern abend noch die meine Mutter betreuende Pflegerin über den Vorfall unterrichtet. Sie versprach, die anderen Pfleger anzuweisen.
Offensichtlich war die Anweisung der Bereichspflegerin nicht ausreichend oder sie blieb unbeachtet, da mit dem Vatertag ein verlängertes Wochenende begann. Wohl mit ein Grund, warum wir bis Dienstag nichts vom Augustinum hörten. Jedenfalls besuchten wir vier Tage später wieder die Schwiegermutter. Sie erzählte erneut von dem letzten Vorfall, und wir beruhigten sie, dass sie fortan nur noch von Schwestern gewaschen werden würde. Gegen Mitternacht kamen wir von einem Treffen nach Hause; der Anrufbeantworter blinkte und die Schwiegermutter berichtete darauf von einem erneuten unglaublichen glaubhaften Vorfall.
Noch in der Nacht telefonierte meine Frau mit dem Augustinum und faxte dazu folgendes:
Meine Mutter … Erneuter Vorfall, Verdacht auf sexuellen Missbrauch
Sehr geehrter Herr (Wohnbereichsleiter),
meiner Mutter geht es nicht gut. Nach menschlichem Ermessen verbringt sie gerade ihre letzte Lebenszeit. Als ihre Tochter will ich, dass meine Mutter diese Spanne in Frieden und ohne zusätzliche seelische Not verbringt. Als Kind erlebte meine Mutter sexuellen Missbrauch. Derzeit wird ihr erlittenes Trauma durch Vorfälle im Wohnstift wieder belebt. Dies ist eine unerträgliche Situation.
Ich faxte Ihnen hierzu am 29. Mai über einen Vorfall indezenter „Körperpflege“ vom 28. Mai. Ich meldete den Vorfall noch am Dienstagabend Schwester … Gestern, Samstagnachmittag, besuchte ich meine Mutter. Ich verließ sie gegen 16:45 Uhr. Danach rief mich meine Mutter in meiner Abwesenheit um 19:38 Uhr an. Auf dem Anrufbeantworter war folgende Nachricht (Wortprotokoll):
„Hier ist die Mutter. Jetzt hat sich der Kerl wieder gemeldet und wollte wieder, dass ich unten ausziehe. Jetzt hab ich mich gewehrt. Jetzt ist er frech geworden. Hat mit die Kleidung an den Kopf geschmissen und ist gegangen. Das ist doch allerhand, oder … Wollte ich dir es nur erzählen. Mal schauen, was ich morgen mach. Servus“
Vorhin, gegen Mitternacht rief ich bei der diensthabenden Schwester an, und berichtete den Vorfall. Sie meinte, dass ihres Wissens kein männlicher Pfleger im Appartement meiner Mutter war. Soviel ich weiß, verfügen die Appartementtüren inzwischen über Schließprotokolle anhand denen festgestellt werden kann, wer eine Tür aufschloss. Demnach müssten Sie feststellen können, wer bei meiner Mutter zur fraglichen Zeit war.
Eine Kopie dieses Fax habe ich an die Berufsbetreuerin meiner Mutter Frau … geschickt.
Hochachtungsvoll
Gleichzeitig unterrichtete meine Frau am Sonntagmorgen per FAX auch die Berufsbetreuerin. Sie rief auch das Hilfetelefon sexueller Missbrauch an, um sich Rat einzuholen, doch das ist nur unter der Woche halbtags besetzt.
Liebe Frau (Berufsbetreuerin),
mit diesem Fax bringe ich Ihnen mein zweites Fax in dieser Angelegenheit zur Kenntnis. Noch am Samstagnachmittag meinte ich, es wäre geregelt und meine Mutter könnte nun ohne Angst in ihrer Wohnung sein. Leider ist dem nicht so. Meine Mutter wird weiter von einem Pfleger sexuell belästigt.
Bitte rufen Sie mich an. Nachdem ich auch am Freitag nichts vom Augustinum gehört habe, überlege ich mir, die Polizei zu verständigen.
Bitte rufen Sie mich gegen Mittag an.
Anderntags rief die Berufsbetreuerin an. Das Augustinum hatte sie schon morgens verständigt, das künftig nur noch Altenpflegerinnen die Schwiegermutter waschen und ankleiden werden. Gleichzeitig leugnete der Wohnbereichsleiter, dass ein Pfleger die Schwiegermutter gewaschen habe; zudem rügte er, dass sie verwirrt durch die Gänge liefe und Mitbewohner belästigen würde. Eine ebenso wirre Behauptung, um ihre Klage abzuwehren. Tatsächlich kann sich die Schwiegermutter nur noch wenige Meter alleine fortbewegen. So tappte sie auf ihrem Flur zu einem Appartement, um sich Hilfe von Mitbewohnern zu erbitten, weil sich ihr Rollator verhakt hatte. Wir kamen gerade zu diesem Moment zu ihr, als die beiden Mitbewohner ihr helfen wollten, somit war die fadenscheinige Argumentation der Heimleitung durchschaubar.
Später sprach ich mit meiner Psychiaterin darüber. Sie meinte, dass demente Personen durchaus aus ihrem einstigen Trauma heraus, Unwirklichkeiten erleben können, beispielsweise die Gegenwärtigkeit eines Verstorbenen. Es kann sein … Doch dem steht entgegen, dass die Schwiegermutte schon Wochen zuvor die zudringliche Leibwäsche erwähnte und die beiden massiven Vorfälle bis dato immer wieder von sich aus berichtet, ohne sie dabei zu variieren.
Jedenfalls zeigt sich hier einmal mehr und grundsätzlich, wie die Strukturen des Missbrauchs alle Lebensbereiche durchdringen. Es ist einfacher das übergriffige Verhalten eines „geriophilen“ Altenpflegers mit der Verwirrtheit der belästigten Person abzuweisen, anstatt ihrer Beschwerde nachzugehen. Das heißt zugleich, dass es im evangelischen Konzern Augustinum gGmbH kein Schutzkonzept gegen sexuelle Übergriffe gibt. Dass sie gegenüber alten Menschen jedoch immer wieder gleichermaßen durch Frauen wie Männer geschehen, ist bekannt. Es gibt kein Alter, das nicht vor sexueller Belästigung schützt. Zudem haben Sexualverbrecher ein feines Gespür dafür, welche Personen aufgrund nicht verarbeiteter Traumata reviktimisierbar sind. Diese Täter besitzen eine Wolfsnatur, sie wittern die Schwachen und Verletzten. Im Klartext bedeutet dies aber auch, dass das Augustinum einen geriophilen Altenpfleger nicht in die Schranken weisen will.
Schlimm ist, wie ich an diesem Fall erneut eindrucksvoll und mich selbst belastend erkenne, wie tief sexuelle Gewalt in der Kindheit die Psyche zerrüttet und einen Menschen dauerhaft belastet. Selbst wenn er wie bei der Schwiegermutter geschehen über Jahrzehnte stabil erscheint, so war sie es bei genauerem Hinsehen nie gewesen. Seit ihrem 40. Lebensjahr hatte sie stete psychosomatische Unterleibsschmerzen, die nur mit Psychopharmaka zu lindern waren. Hinzukam eine multiple Lebensmittelallergie. Ihre Unterleibsschmerzen nahmen in den letzten Wochen auch wieder zu, zudem plagen sie seitdem wieder Panik und Angst, so dass sie nur noch sterben will. Ja, die Mutter meiner Frau wurde durch diese Schändlichkeit mit 93 Jahren akut posttraumatisiert.
Ich weiß von einem anderen Psychiater, in dessen Haus während seines Urlaubs eingebrochen wurde, dass er sich über lange Zeit danach daheim nicht mehr wohl fühlte und ihn der Einbruch schwer verunsichert hatte. Das Geschehen war für ihn eine massive psychische Verletzung. Ähnliches höre ich auch von anderen, die einen Einbruch erlebt hatten. Wieviel schlimmer muss es also für einen alten dementen Menschen sein, wenn er sich in seiner Wohnung nicht mehr sicher fühlt, weil ihn eine Pflegeperson sexuell belästigt und sein Grundbedürfnis nach Sicherheit und körperlicher Unversehrtheit verletzt.
Hinzukommt die spezifische Einsamkeit, die in einem Altenheim herrscht. Die meisten Alten haben nur oberflächliche persönliche Kontakte zueinander. Ihre wesentliche Verbindung bleibt ihre Familie. Sexuelle Gewalt durch das Personal des Altenheims wird weder Tisch- noch Flurgespräch sein. Einem alten Menschen, dem so etwas widerfährt, bleibt häufig nur schweigen und die Schmach zu erdulden; das gleicht einer Vorhölle am Lebensabend.
Dass das Augustinum es nicht für nötig hielt, meine Frau anzurufen oder ihr zu schreiben, spricht Bände über die Festigkeit der christlichen Gesinnung in diesem Konzern. Sicher muss das Augustinum derlei nicht tun. Meine Frau ist ja nicht die Betreuerin ihrer Mutter. Sie ist auch nicht Vertragspartner des Altenwohnstifts. Jedenfalls scheinen Höflichkeit und Respekt ebensowenig protestantische wie katholische Eigenschaften zu sein. Sexueller Missbrauch in Altenheimen ist jedenfalls eine Dimension, die mir seit 1975 durch Pflegekräfte bekannt ist. Es ist an der Zeit, dass die Kinder und Enkel der Eltern und Großeltern, denen so etwas geschieht, ihr Schweigen brechen; denn kein Mensch ist zu jung oder zu alt, um nicht sexuell missbraucht zu werden.
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