Eine normale Schandweihnacht

Weihnachten ist an sich, schon wegen seines vollkommen verrückten Anlasses, der Vergewaltigung Marias durch den Heiligen Geist, ein irres Fest. Doch der ganze Tohuwabohu darum krönt gewissermaßen noch den Wahnsinn. Da fixt sich eine ganze Gesellschaft gegenseitig an; pfeift sich schon im Oktober die ersten Lebkuchen ein; kann es nicht erwarten, bis Mitte November die Glühweinbuden aufmachen, um sich gepanschten Rotwein einzulitern. Wenige Tage später nennt sich dann die Orgie Weihnachtsmarkt und man wird dann für 30 Tage ununterbrochen allüberall in der Stadt mit Weihnachtsgeduddel bis über den Brechreiz hinaus beschallt. Dann endlich ist der 24. Dezember und die Orgie endet in einer orgastischen Bescherung – der Höhepunkt ist erreicht. Nachspiel gibt es die nächsten zwei Tage mit Weihnachtsbraten und Alkohol bis zum Leber- und Gallenversagen. Tja, und dazu singt man als Drohung wie zum Schwur: Alle Jahre wieder!

Kotz! Dieses Weihnachten bescherte mir ein Doppelpack. Ich tat nichts dazu, es war nur der ganz normale Wahnsinn meiner völlig wahnsinnigen Mitwelt.

Erstes Pack: Nachmittags besuchten wir die sterbende Schwiegermutter. An der Tür lurten wir durch die Briefklappe, ob unser Sohn in ihrem Appartement ist. Er bemerkte es und öffnete die Türe. Er weiß, dass wir ihn nicht mehr sehen wollen. So war dieser Kontakt recht kurz. Ich winkte ab, er solle die Türe wieder schließen, und er meinte, er sei in einer halben Stunde weg. Wir nahmen im Foyer zum Appartement Platz, um zu sehen, wann er ging, und dass er keine Dinge mitgehen ließ; was er bei seinen letzten drei Besuchen getan hatte, als er seiner Oma ihren Alltagsschmuck, der nicht im Tresor lag, inklusive Ehering stahl.

Wenige Minuten später verließ er das Appartement und stürmte an uns wutentbrannt vorbei, ohne uns noch eines Blickes zu würdigen. Mir war es recht; offensichtlich hatten wir irgendein Vorhaben vereitelt, denn er trug seltsamerweise einen Aktendeckel mit sich. So wünschten wir dem Pflegepersonal frohe Weihnachten und saßen eine Weile bei der Schwiegermutter, die einst in narzisstischer Manier Täterin gegenüber meiner Frau war.

Zweites Pack: Doch der richtige Klopper kam erst noch. Später daheim rief uns ein gemeinsamer Freund an, um uns eine fröhliche Weihnacht zu wünschen. Auch er ein einst drogenabhängiger Überlebender von sexuellem Missbrauch durch seine Mutter, die im Altenpflegeheim liegt. Er erzählte meiner Frau von einem chaotischen Weihnachtsabend, den er mit seinen erwachsenen Kindern bei seiner Mutter verbrachte. Erst stritten sich seine beiden Kinder und warfen sich die Geschenke gegenseitig um die Ohren. Danach war die Stimmung angenehm unterkühlt, wie es sich für eine Weihnachtsfamilie gehört. Doch dann berichtete er meiner Frau stolz – er ist Krankenpfleger – über eine pflegerische Leistung. Die Altenpflegerin musste den Blasenkatheder bei seiner Mutter wechseln, bekam ihn aber auch beim dritten Versuch nicht rein. Also bot er sich an und legte seiner Mutter den neuen Katheder auf Anhieb. Er musste dann das Telefongespräch unterbrechen und wollte dann später noch mir seine Weihnachtswünsche übermitteln.

Als mir meine Frau von dem Kathederwechsel berichtete, war ich tief erschrocken. Dieser totale Wahnsinn, der da ablief triggerte mich; denn sofort stiegen die Bilder meines abhängigen Verhältnisses zu meinen Tätern – den beiden Eltern – auf, als ich mich aus der korrupten Beziehung zu ihnen nicht lösen konnte und wie sie mich später auch immer mal wieder einfangen konnten. Da sitzt mein posttraumatisierter Freund nach drei Jahre Traumatherapie, pflegt immer noch Täterinnenkontakt und schaut sich am Weihnachtsabend die Vulva seiner ihn einst missbrauchenden Mutter so genau an, dass er den Katheder gezielt setzen kann. Die Altenpflegerin kommentierte die Leistung mit „Whow!“, und er meinte zu meiner Frau am Telefon, dass dies an diesem vergeigten Weihnachtsabend seine einzig gelungene Tat gewesen wäre. Ich meinte hingegen nur trocken zu meiner Frau, dass er die 10.000 Euro aus dem Fonds sexueller Missbrauch für die Fortsetzung seiner Therapie der falschen Therapeutin zukommen lässt. Meine Frau erwähnte dann noch, dass der gute Freund meinte, dass er sich soweit auf seine Professionalität verlassen könne und ihn selbst deswegen nichts triggere. Darauf gab ich nur zu bedenken, dass er da wohl irre, dass das zwar für den Moment möglich sei, doch dass sich darüberhinaus das neue Bild von der Vulva seiner Mutter dauerhaft in sein traumatisches Gedächtnis einbrennen würde.

Dann kam sein Anruf für mich. Wir wünschten einander fröhliche Weihnachten, er klagte einen Satz über den schlimmen Heiligabend und dann kam er bereits auf den Kathederwechsel zu sprechen. Ich unterbrach ihn sofort ohne Überlegung und teilte ihm mit, dass ich davon weder etwas hören noch darüber sprechen möchte. Doch er wollte sich nicht abbringen lassen, sondern begann etwas von Vater- und Sohnschaft zu faseln, worauf ich sagte, wenn er nicht sofort von dem Thema abließe, würde ich auflegen, worauf er meinte ich würde den Zusammenhang nicht verstehen. Was ich davon seiner Meinung nach nicht verstanden habe, hörte ich schon nicht mehr, denn ich hatte wie angedroht aufgelegt.

Im Nachhinein bin ich stolz auf mich, dass ich soweit genesen bin und mein Selbstschutz so stark geworden ist, dass ich derlei Trigger sofort abweisen kann und mich auf keinerlei relativierendes Geplänkel mehr einlasse. Mein Verhalten war in beiden Fällen nicht vorbedacht, sondern spontan, und ich muss sagen, da ist inzwischen jemand in mir, der mich beschützt. Auf ihn darf ich mich auch in Zukunft verlassen. So bescherte mich dieser Heiligabend in recht seltsamer Art. Sei’s drum, uns allen einen gesegneten Irrsinn namens Weihnacht.

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