Rowohlt will die Autobiografie von Woody Allen herausbringen. In Amerika wurde die Veröffentlichung durch den Verlag Hachette von einer Meute moralisch Infizierter verhindert. In Deutschland gelang es einer ebensolchen Laienrichterschar von empörten „Rowohlt-Autoren“ beinahe, die Veröffentlichung ebenfalls zu vereiteln. Heute teilte Rowohlt jedoch mit, dass er Allens Autobiografie termingerecht zum 7. April ausliefern wird (siehe Link).
Woody Allen wurde 1992 von seiner Frau Mia Farrow in einem Rosenkrieg des sexuellen Missbrauchs an seiner Adoptivtochter Dylan beschuldigt. Es kam jedoch zu keiner Anklageerhebung, da rechtsmedizinische Gutachter zu der Erkenntnis gelangten, dass Dylan nicht missbraucht worden sei. Dennoch werden seit 2013 die Vorwürfe gegen Woody Allen erneut erhoben, ohne dass neue Erkenntnisse vorgelegt wurden (siehe Link). Zu den erneuten Vorwürfen nahm Allen 2014 in der New York Times Stellung (siehe Link).
Was mich veranlasst, hierüber nachzudenken, ist allerdings nicht die Falschbeschuldigung, Allen sei ein Kinderschänder. In seine Situation geraten, seit Kindesmissbrauch ein Thema wurde, vor allem Väter bei Scheidungsverfahren, sobald es um das Sorgerecht für die Kinder geht. Wenigstens 20% dieser Vorwürfe stellen sich erwiesenermaßen als falsch heraus (siehe Link). Was mich hingegen reflektieren lässt, ist der Umstand, dass die sich empörenden Rowohlt-Autoren zugleich mit Dylan Farrow und allen anderen weiblichen Opfern sexueller Gewalt solidarisieren wollen. Dieser vorgetragene Solidarität empfinde ich nämlich mehr als scheinheilig.
Ja, halte sie für eine unglaubliche Anmaßung. Während es für die meisten Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs ein unbedingtes Ziel ist, ihren Opferstatus zu überwinden, um ein selbstbewusstes und selbstbestimmtes Leben zu führen – weswegen sie sich auch statt Opfer „Betroffene“ oder „Überlebende“ nennen – adaptieren Nichtbetroffene durch ihre Solidaritätsbekundung für sich deren Opferstatus. Sie wollen also irgendwie mitleiden, um ihre semipolitischen Forderungen zu begründen. Das aber empfinde ich als Überlebender von Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung als eine eitle Anmaßung und schlimme Instrumentalisierung tatsächlicher Opfer, um einen Veitstanz an Massenhysterie zu rechtfertigen.
Solidarität bedeutet, für jemanden einzustehen. Doch die Rowohlt-Autoren stehen nicht für die Opfer, sondern nur für sich selbst, für ihre Kampagne ein, für die sie den Fall Farrow-Allen instrumentalisieren und exemplarisch für alle anderen Fälle von Kindesmissbrauch behaupten. Damit aber fallen sie faktisch den Überlebenden von Kindesmissbrauch in den Rücken. Denn sie „solidarisieren“ sich gleichzeitig mit den vielen anderen Falschbeschuldigern, die sexualisierte Gewalt inzwischen als eine Form der persönlichen Vernichtung von Kontrahenten verwenden. Sie stehen damit auch den „Opfern“ in keiner Weise bei, indem sie ihre Forderungen unterstützen. Vielmehr bezwecken sie einzig ihre eigene moralische Überhöhung; wobei ihnen ein Verbrechen, das auch heute noch in den meisten Familien kollektiv beschwiegen wird, gerade recht ist.
Missbrauchsverbrechen sind ein moralischer Abgrund, sie sind eklig, ebenso grausam wie zynisch; sie stürzen die Betroffenen in derart ungeheuerliche Konflikte, dass darüber ihre Seelen zerbrechen und sie an den Folgen für ihr Leben laborieren werden. Andere sterben vorzeitig an den Nachwirkungen des erlittenen Missbrauchs durch Suizid, Drogenkonsum oder psychosomatisch bedingte Krankheiten. Wie kann man da als Nichtbetroffener eintreten oder beistehen, ohne das Opfer zu verhöhnen? – Jedenfalls behaupten die „Solidarischen“, dass genau das ihr Behuf ist, etwaige Verhöhnung der Opfer durch die Täter zu verhindern.
Ja, haben sie denn überhaupt eine Ahnung, was sie da sagen? Missbrauch und überleben von Missbrauch ist keine Klipp-Klapp-Geschichte, sondern ein komplexes Geschehen, in das neben den Beteiligten viele Unbeteiligte verwickelt sind, jene die weggeschaut, jene die hingesehen und geschwiegen haben; jene die vertuschten, die Täter schützten und die Opfer übersahen oder beeinflussten, das Verbrechen zu verschweigen. Ja, durch die überlebenswichtige Identifikation des Opfers mit dem Täter, lud sich das Opfer seinem Verständnis nach gar selbst noch Schuld auf. Nein, einem Missbrauchüberlebenden geht es erst in zweiter Linie darum, einen Täter zu stellen, und gar erst in dritter Linie darum, sich für andere Opfer einzusetzen. In erster Linie geht es einem Überlebenden darum, dieses Verbrechen womöglich doch zu überleben; sein eigenes zertrümmertes Leben in den Griff zu kriegen. Freilich geht es ihm ganz gewiss nicht darum, in die Öffentlichkeit gezerrt zu werden.
Mit ihrer Vereinnahmung der Opfer aber beschränken jene, die sich vermeintlich solidarisieren, dem Überlebenden diese Möglichkeiten, sie zwingen ihm eine Sicht der Dinge auf, die er allenfalls erst nach einem langen therapeutischen Prozess gewinnen kann; wenn überhaupt. Jedenfalls sind die Interessen der Opfer nicht die, die sich die selbstgerechte empörende Meute auf die Fahnen schrieb. Sie will jagen und ihre Solidarität heißt Täter jagen, anprangern und weiter hetzen. Es ist ihre Hatz, und sie stehen dabei den Tätern näher als den Überlebenden. Überlebende haben andere Sorgen. Wer nach einem solchen Verbrechen überleben muss, der muss in der Tat um sein Überleben kämpfen. Da ist nichts mehr wohlfeil, sondern alles ein teures erringen, mit Tränen, Angst und Flashbacks, mit langen Phasen psychischer Desorientierung und lebensgefährlichen Depressionen oder Selbstverlorenheit. Ja, im Grunde vollenden die selbstgerechten Solidarischen das Werk der Täter, indem sie die Opfer verschrecken, verheizen und benutzen. Sie sind für sie nur Mittel zu einem ganz anderen Zweck. Sie helfen mit, die Opfer unsichtbar zu machen, indem sie die Täter, die wahren wie die vermeintlichen, sichtbar machen. Sie wollen sie als ihre Opfer. Die wahren Opfer interessieren sie indessen nicht; nicht wirklich, nur am Rande, solange sie eben Mittel bleiben und sich von ihnen führen und instrumentalisieren lassen. So bedienen sie mittelbar die Strukturen des Missbrauchs, und übernehmen Täterfunktionen, indem sie die Opfer erneut mundtot machen und somit ein Umfeld für neue Täter schaffen. Die Kirchen machen dies gerade in subtiler Weise vor.
Auch sollte jeder, der meint, mit den Überlebenden mitfühlen zu können, sich prüfen, ob er sich nicht gleichfalls ein Leid zusprechen möchte, weil sein Leben sonst so leicht ist, dass er sich ob dieser Leichtigkeit schämte, weil der Kelch des Leidens an ihm vorbeigegangen ist. Die Kirchen, ja das gesamte Christentum ist von einem unglaublichen Masochismus durchtränkt, der sich mit der Qual und Not anderer schmückt und meint, eben diese Schrecken mitempfinden zu können. Dabei „schmücken“ sie ihre Kirchen nur in perverser Art mit Gruselbildern, die jede Geisterbahn übertreffen. Das alles nur in der „edlen“ Absicht, dass das Leiden der Leidenden den Mitleidenden adelt, indem er Mitempfinden imaginiert und sich heute darob gar solidarisch erklärt.
Mit Verlaub, ich fühle mich von solchen Mitmenschen verhöhnt; ja, ihr spuckt mir ins Gesicht! Um mich ein wenig zu verstehen, fragt euch, warum ich euch nicht in euer Gesicht zurückspucke. Warum spucke ich nicht zurück? Weil ihr so nichts mit mir gemein habt, als dass ich euch diese Brücke bauen könnte. Seltsam, da sehe ich einen Treppenwitz: Auch der Heiland hat seinen Schändern nicht ins Gesicht zurückgespuckt. – Deshalb schminkt euch eure Solidarität ab, hört auf, euch zu belügen und macht euch mit eurer politischen Agenda ehrlich. Ihr seid keine Opfer, und dafür danke ich dem Schicksal, dass dieser Kelch an euch vorüberging. Und ja, ich bemitleide euch, dass ihr dieses Glück nicht begreifen könnt; ja, nie in seinem Ausmaß ganz begreifen werdet, sonst hättet ihr mit mir meinen Schrecken teilen müssen.