Blondie

Endlich. 43 Jahre nachdem es sich ereignete, woran ich immer wieder zweifelte und dennoch glaubte, dass ich mich daran erinnere, fand ich den Beleg dafür, dass der Wahn Wirklichkeit war, und ich in einem Moment auf Messers Schneide durch den Rausch hindurchblickte. Es gab in der Endzeit meiner Drogenkarriere öfters derlei Momente, in denen für einen Moment der schwarzblaue Nebel in meinem Kopf aufriss und ich mit kaltem klaren Blick in eine Welt blickte, die mich zwar umgab, aber mit mir nichts mehr zu tun hatte; denn ich war sterbenssiech. Präziser gesagt, ich war am verrecken. Die Welt, in die ich blickte, ließ mich frösteln, und ich bekam Panik. Eine Panik, in der ich mich selbst schlachten wollte, weil kein Zombie zur Stelle war, der mich zerriss. Ich wollte weglaufen, nur ich konnte nicht, ich brauchte Gift.

Also musste ich hinein, erst in den Wienerwald, in dem Haschisch vertickt wurde. Doch die Dealer waren träge, die Lumpen wollten mir nichts verkaufen – vielleicht war ich ihnen zu stoned. Sie schickten mich ins Down Town im Hinterhof, dort gäbe es Äitsch. Ich wollte kein Äitsch, ich wollte Dope, doch es war vor Mitternacht und kalt draußen, ich würde diese Nacht nirgendwo mehr was bekommen. Also stolperte ich zum Down Town. Die Türsteher wollten mich nicht einlassen, weil ich keine Eintrittskarte hatte. Wieso Eintrittskarte? Weil heute Konzert ist, du Penner!

Das war der Augenblick als der Nebel wich. Ich brauchte Gift und musste rein. Ich quatschte, handelte, erklärte, dass mich der Scheiß da drinnen nicht interessierte, ich wollte nur schnell was kaufen und wieder verschwinden. Bitte, flehte ich. Sie hatten ein Einsehen und ließen mich rein. Da stand ich in dem nachtschwarzen Saal. Mein Blick verengte sich schon wieder. Ich fragte nach Gift. Dann wurde es dunkel in meinem Kopf.

Ich fand mich wieder auf der Empore. Ein Scheinwerferkegel schnitt eine Sängerin mit weißblondem Bob im kurzen Schwarzen aus der Bühne. Sie sang, und es gefiel mir. Was sie sang war kalt. Es war so kalt wie in mir, wie die Nacht, wie alles in diesem schwarzen Kasten mit seinen idiotischen Tischtelefonen. Dort war der Dealertisch. Ich fragte nach Dope. Nein, nur Äitsch. Also Äitsch, und ich kaufte ein Briefchen. Es war mein erstes Briefchen Heroin. Ich blieb noch kurz auf der Empore, sah auf die Bühne, hörte das Lied. Sah den gleißenden Kegel wie aus einer anderen Welt. In ihm eine Motte. Blondie. Doch schon drängte es mich, das Gift zu konsumieren. Zudem war es Zeit, raus zu kommen. Andernfalls würden mich die Türsteher nie wieder aus Erbarmen reinlassen. Hier gab es Gift. Das zählte. Die Musik war nebensächlich.

Daheim öffnete ich das Briefchen. Es war eine hübsche Menge Pulver, genug für drei, vier Schuss. Ich nahm den rautenförmigen Ölmalspatel vom Zeichentisch, teilte das puderfarbige Pulver in zwei Häufchen. Teilte eins davon erneut und schaufelte mir in jedes Nasenloch eins. Endlich wurde mir wieder warm, schmolz alle Panik.

Irgendwie musste ich aufs Bett gefallen sein. Denn als ich wieder aufwachte, lag ich flach und klotzte in den Fernseher. Es war ein kleiner schwarz-weiß Fernseher. Ich sah trotzdem bunte Krawattenmuster und hörte Stakkato. Schon spacte ich wieder weg. Als ich erneut erwachte, war der Bildschirm wieder schwarz-weiß. Ich schniefte das verbliebene Häufchen Heroin. Der Bildschirm wurde nicht mehr bunt.

Zwei Jahre später hörte ich die Stimme der Weißblonden aus dem Down Town im Radio. Blondie sang Heart of Glass. Es war wieder November und ich erholte mich gerade von meinem letzten Rückfall. Die Stimme klang nicht mehr kalt, eher zerbrechlich. Das Lied war frostig passend zum Affen, den ich schob. Ich wähnte, dieses Lied schon mal gehört zu haben, sah im Erinnungsblitz das Down Town, das gleisende Spotlight – Blondie, und meinte zu phantasieren.

Manchmal, wenn die Erinnerung an diese beinahe tödliche Dosis Äitsch in mir wieder aufblitzte, suchte ich im Internet, doch Blondie schien um diese Zeit nie in München gewesen zu sein. Heute suchte ich einmal mehr. Diesmal hatte ich die richtige Schlagwortkombination eingegeben. Ich fand das Plakat für ihr Konzert im Down Town. – Seit November 1979 bin ich clean. Damals begann ich zu überleben. Damals begann mein zweites Leben.

 

2 Gedanken zu “Blondie

  1. Ich habe viele Artikel in Ihrem Blog gelesen, verbleibe nun in diesem, welcher der letzte war, als Ihr like bei mir ankam, und der erste, den ich hier las.
    Ihr Schreibstil gefällt mir sehr, das würde ich gerne liken. Allein, es sind die Inhalte, die mich stumm machen.
    Schon beim Schreiben meines Beitrags, den Sie geliket haben, wusste ich, dass ich mich der Lächerlichkeit preisgebe; und ich selbst, wäre ich ein anderer, würde meinen Beitrag nicht liken. Vielleicht täusche ich mich, aber ich glaube zu verstehen, dass, und warum Sie ihn nicht lächerlich finden und ihn gelikt haben. Ich habe nicht erlitten, was Sie erlitten haben. Ich habe keine Drogenerfahrungen gemacht. Und ich habe nicht die Kraft, die Sie haben. Vielleicht aber haben wir, Sie und ich, in die selbe andere Welt geblickt.

    Gefällt 1 Person

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