Weil ich weiß, was ich nicht mehr brauche, oder probatorische Stunde VI

14. Mai 2020

Dr. G. hat Wort gehalten und mir eine mögliche Therapeutin vermittelt. Sie klingt am Telefon schon sympathisch, denn sie spricht mit Münchner Akzent. Sie hat neue Anweisungen, nach denen Mundschutz Pflicht sei. Ich frage nach, ob das denn sein müsse, denn er beeinträchtige doch wegen der verborgenen Mimik das Gespräch. Nein, der sei Pflicht. Ich treffe sie (B.F.), eine Woche nach dem Anruf. Wir erteilen uns schriftlichen Dispens vom Mundschutz, weil wir ohnehin vier Meter auseinander sitzen werden. Es wird ein angenehmes, offenes Gespräch. Die Vortherapien werden nicht als problematisch empfunden, sondern als Baustein, auf den man weitere setzen könne. Bedeutend sei, was man weiterhin erreichen möchte. Ich möchte komplett werden, lautet meine Antwort. Wobei ich über ein Komplettsein spreche, ohne meine derzeitige Situation näher zu skizzieren, aus der heraus ich erneut den Wunsch vortrage. Ein Mangel, den ich in der nächsten Stunde ausgleichen möchte. – Ja, es wird eine weitere Stunde geben. – Zu meinem Wunsch nach komplett sein, meint sie, es gäbe ihn nur, wenn es bereits entsprechendes in einem gäbe. Also gilt auch hier das Motto kein Rauch ohne Feuer. Zwischendurch eine kurze Dissoziation, ich setze mich um, um mich der Flucht durchs Fenster zu entziehen. Sie greift das Wort Fluchten auf und meint, dass sie sehr mit der Sprache arbeite, da der persönliche Ausdruck sehr viel über die Person verrate – meine Worte, nicht die ihren.

Wir werden sehen, wie und ob wir zusammenarbeiten können. Es gibt derzeit weder Einschluss- noch Ausschlusskriterien. Jedenfalls verließ ich die Stunde ohne Schwankschwindel.

21. Mai 2020

Heute, an Christi Himmelfahrt, rief ich bei B.F. an und sprach auf den Anrufbeantworter, dass ich die nächste, die dritte probatorische Stunde nicht mehr wahrnehmen werde. Zwei Tage vorher war ich zu meiner zweiten probatorischen Stunde erschienen. Es begann mit der analytischen Attitüde des provokativen Anschweigens, Erwartungshaltung bei gleichzeitiger kühner Zurückhaltung zeigen. So saß sie in ihrem Sessel, schmunzelnd, allwissend, das Orakel spielend. Ich wäre beinahe dissoziativ entschwunden, hätte ich mich nicht vorbereitet, mein Anliegen, das in der vorherigen Stunde zerredet worden war, noch einmal zu präzisieren, nämlich komplett zu werden. Also legte ich meine aktuelle Befindlichkeit dar, dass ich mich nicht als Beteiligter meines Lebens empfinde, sondern als jemanden, der gelebt wird. Ich illustrierte es mit Beispielen, wie dass ich mich mit meiner Arbeit nicht identifiziere. Es schreibt sich, es malt sich, sage ich, nur es hat mit mir nichts zu tun. Ebenso die aktuelle Coronakrise, zu der ich keinen Bezug finde. Sie geschieht, geht mit mir, weil wir im selben Raum sind, aber das war es.

B.F. meint darauf, dass sie froh wäre, wenn sie sagen könnte, es schreibt sich, wo die Kassenanträge und Berichte für sie belastend, ja quälend seien. Ich denke daran, dass ich ihr mit mir eine weitere Last aufbürden werde.

Doch noch weit vorher dachte ich daran, mich zu verbergen. Denn das Gespräch begann nicht sofort. Vielmehr stand ich während des ersten analytischen Anschweigen auf und betrachtete meiner Gewohnheit entsprechend die Einrichtung des Raumes näher. Doch dann brach ich ab, als ich mir dachte, sie könnte es in ihre analytische Wahrnehmung von mir einordnen und somit auch mich vorbeurteilen. Also setzte ich mich wieder. Worauf sie das Anschweigen unterbrach und meiner Erscheinung Respekt zollte. Ich sei ersichtlich ein Künstler, meine Haare, die Brosche am Revers, eine imposante Erscheinung und dazu der aufmerksame Blick. Nun ja, ich bedankte mich schnell, um diese seltsame Sympathiebekundung zu beenden. Ich empfand sie unangebracht.

Daraufhin begann die zweite analytische Schweigerunde. Zunächst wollte ich sie wegen der unpassenden Bekundung dehnen und sehen, wer zuerst einlenkt, doch dann besann ich mich darauf, warum ich bei ihr saß, und begann zu sprechen. Auf die Schilderung meiner Selbstwahrnehmung mangelnder Selbstzentriertheit und Ich-Dystonie ging sie insoweit ein, dass sie mich als sehr selbstbewusst und äußerst präsent erleben würde. Ich schilderte ihr die hier bereits erwähnte Begebenheit auf der Frankfurter Buchmesse, an der sie wiederum der Buchtitel „Blut“ mehr interessierte, als das geschilderte Geschehen. Sie sagte „Bluut?“ und hob dazu fragend die Augenbraue. Sie schien wohl zu assoziieren, dass der Titel etwas mit meiner Psyche und einem möglichen analytischen Abgrund zu tun haben könnte. Vielleicht war ich in diesem Moment für sie ein zweiter Norman Bates, der Opfer-gleich-Täter-Fall, und damit ihre psychoanalytische Krönung. Doch ich enttäuschte sie, mein Interesse galt damals einer Idee, mit einem Kollegen ein Buch über Blutkulte schreiben zu wollen, der ich letztlich keine Marktchancen einräumte. Mein nüchterner kommerzieller Blick auf das Kunstgeschäft irritierte sie zudem erkennbar.

Nun ja, dennoch gab sie nicht auf, mir ein stabiles Ego und eine top Präsenz zu bescheinigen. So hätte sie in ihrer 30jährigen Praxis noch keinen Patienten erlebt, der wie ich, sich den Raum so unbefangen und interessiert angesehen habe, ja, auch das Gesehene gar noch im Gedächtnis zu behalten und im Gespräch zu repetieren. Mein Einwand, dass ich die Besichtigung abgebrochen habe, um nicht affektiert und auffällig zu wirken, war ihr gleich weiterer Beleg für meine stabile Persönlichkeit. – Also ich gehe zum Doktor wegen Bauchgrimmen, und er diagnostiziert aus dem Stegreif, nein, nein, Sie haben Spreizfüße. Okay …!?

Und das ganze ohne Exploration ihrerseits. Da war Dr. G. Anfang Mai geradezu ein erkundendes Genie, denn in der einen Stunde, hatte sie meine Familienstruktur, das Missbrauchsgeschehen, die Arbeit in den vorangegangenen Therapien und dazu noch meine aktuelle Befindlichkeit abgefragt. Ja, selbst warum ich am Stock gehe interessierte sie. B.F. hatte mir zu all dem keine einzige Frage gestellt, auch nicht dazu, was das psychogene an meinem Schwankschwindel sei, nachdem ich ihr von mir aus erklärte, warum ich einen Gehstock benütze. Zwischendurch zählte ich ihr meine Stationen von Heim und Familie, um ihr den Widerspruch zwischen meiner inneren Menschenscheu im Gegensatz zu meiner sozialen Anpassungsfähigkeit aufzuzeigen. Diese Diskrepanz beruht auf  Aspekten dependenter Abhängigkeitsstörung in Verbindung mit meiner Ich-Dystonie. Durch den häufigen Gruppen- und Schulwechsel erwarb ich mir die Fähigkeit, mich schnell in neue Horden einzufügen, derweil mir die Scheu blieb, weswegen ich kaum Freundschaften schloss und mich zudem noch verleugnete, um durchzukommen. Auch zu diesem Komplex keine Nachfrage ihrerseits. Ebensowenig nach meiner Macke Fluchten als Blickpunkte zu vermeiden, um nicht zu dissoziieren. Als ich in diesem Zusammenhang ein paar Skills erwähnte, die ich in den Therapien erlernte, erzählte ich ihr Ungekanntes; ebensowenig kannte sie Ammoniak als Riechsalz, um wieder Präsenz zu gewinnen. Während meine Psychiaterin, als ich es ihr zeigte, sich sofort den Namen für ihren Empfehlungskatalog aufschrieb, zeigte sie, nachdem sie daran schnupperte, kein weiteres Interesse. Zu all dem hatte sie keine Frage. Womöglich kannte sie die Antworten bereits besser als ich …

Letztlich drängte ich darauf, zu erfahren, wie sie sich denn eine Therapie mit mir vorstellen würde. Doch auch hier lief ich ins Leere, sie hatte keinen Plan, sprach von dem Gespräch, das sich entwickeln müsste, von der Auseinandersetzung miteinander, von Vertrauen und blieb gekonnt im Unbestimmten. In der Hoffnung, sie würde bis zur nächsten Woche ein Konzept skizzieren können, vereinbarte ich noch eine dritte probatorische Stunde. Am Abend des nächsten Tages, als ich privat darauf zu sprechen kam, wurde mir klar, dass sich hinter ihrer Attitüde nur ein alter ausgelatschter freudscher Stiefel verbarg aber keinerlei Struktur. Somit war auch dieser Versuch gegessen. – Whow, was bin ich doch für eine präsente Persönlichkeit … nur ahne ich davon so wenig.

Ach ja, meine Albträume erwähnte ich auch zwischendurch hie und da, doch auch sie waren kein Grund zur Nachfrage. Ebensowenig thematisiert wurde auch meine fehlende Selbstfürsorge, die ich in der ersten Stunde erwähnt hatte, als ich am Vorabend zur Therapie in der Küche beinahe wegen Unterzuckerung umgefallen wäre, wenn Ruth mich nicht zittrig und kasleibig beim kochen gesehen hätte und mir sofort Wasser und Brot befohlen hätte. Derlei Vernachlässigungen meiner selbst sind mir eingefleischt, weil mir der Sinn für mich selbst fehlt. – Gut, soviel Eigensinn habe ich mir dank acht Jahren Therapie doch angeeignet, dass ich mit einem Begleiter wie B.T. nicht zusammenarbeiten werde.

Nach dieser Stunde regte sich wieder mein Schwankschwindel. Er hielt zwei Tage verstärkt an. Was bin ich nur für ein resilientes Kerlchen …

25. Mai 2020

Back to the roots! Übers Wochenende habe ich mir überlegt, meine erste Traumatherapeutin anzufragen, ob sie noch Traumatherapie macht und ob sie sich vorstellen könne, erneut mit mir zu arbeiten. Beides bejahte sie und bot mir gleich für Ende Juni einen ersten Beratungstermin an. Gut, wenn es klappt, bleibt mir somit eine weitere Tour de force mit quälenden probatorischen Stunden erspart.

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