
Alte Menschen werden hilflos und sind dann auf die Fürsorge der Jüngeren angewiesen. Alte werden auch nerviger, vor allem wenn sie dement werden und sich in einer komplizierten Welt nicht mehr zurecht finden, weil sie sich überwiegend nur noch ihrer vergangener Fertigkeiten erinnern, die nicht mehr in ihre altersbedingt eingeschränkte Umgebung passen. So können mobile aber orientierungslose Alte eine gewaltige Bürde für ihre Pfleger sein. Sie rücken immer wieder aus und irren dann durch die Stadt, weil sie den Weg zurück nicht mehr finden. Wir selbst trösteten mal eine verängstigte Alte in unserem Quartier, die mit ihrem Rollator zwar forsch aber auch orientierungs- und hilflos unterwegs war. Schließlich nahm sich ihrer nach einer guten Weile eine Streife an. Für die Polizisten war die Frau eine gute Bekannte, die sie schon mehrmals ins Altenheim fünf Ecken weiter zurück gefahren hatten.
Eine ebenso quirlige Alte war auch meine Schwiegermutter. Vor allem nachts trieben sie Angst und Wirrnis aus ihrem Appartement in die Gänge des Altenstifts. Dabei war die Gefahr groß, dass sie stürzte und sich verletzte. Gleichzeitig waren ihre Ausflüge eine ungute Unterbrechung der Routine für die Altenpfleger. Es machte ihnen schlicht mehr Arbeit, die alte Frau wieder in ihr Appartement zu führen und zu beruhigen. Also machte sich das Pflegepersonal Gedanken, wie sie die Schwiegermutter so schrecken konnten, dass sie für eine Weile ihre Ausflüge unterließ. Und dazu kommt mir angelehnt an den Begriff „weiße Folter“ der Begriff „weiße Gewalt“ in den Sinn.
Von weißer Folter spricht man, wenn der Gefolterte keine körperlich sichtbaren Spuren von der Folter aufweist. Diese Folter setzt auf Angst und Schrecken; Scheinhinrichtungen oder Waterboarding gehören dazu. Deprivation durch reizlose oder extrem schrille Umgebung zählt ebenso dazu. Weiße Gewalt ist folglich eine leiblich spurenlose Gewalt, weil sie allein auf psychische Not setzt.
Auf weiße Gewalt setzte offensichtlich auch ein Teil des Pflegepersonals in der Seniorenresidenz Augustinum – welch schöner Name -, das meine Schwiegermutter betreute. Weil sie zu umtriebig war, drohte man ihr, sie nach Haar zu verlegen. Haar wird hier die „Irrenanstalt“ am Rand von München genannt. Dazu wartete man offensichtlich nicht auf einen Vorfall, sondern inszenierte ihn, indem man ein Kopfkissen aufschnitt und die Federn in ihrem Zimmer verstreute.
Jedenfalls war die Schwiegermutter so eingeschüchtert, dass sie fortan für eine gute Weile ihre nächtlichen Ausflüge unterließ. Wie sicher sich die Pfleger waren, konnte ich später aus dem Pflegeprotokoll lesen, in dem sich die beteiligten Pflegerinnen über ihre gelungene Kabale amüsiert austauschten.
Nachstehend veröffentliche ich mein FAX an die gesetzliche Betreuerin, in dem ich über die Pein, der meine Schwiegermutter ausgesetzt war, berichtete. Die Betreuerin wirkte diskret aber auch effektiv, solche Mißstände zu skandalisieren, war nicht ihr Behuf.
16. September 2019
Liebe Frau Dr. (Name),
zuletzt besuchte ich meine Mutter am Freitag den 13. Davor war ich zuletzt am 2. September bei ihr, da ich selbst krank war. Am Dienstag den 3. rief mich ihre Besuchsdame Frau Parringer an, dass meine Mutter ein Hämatom am Hinterkopf von einem Sturz hatte. Am Freitag den 13. war davon nur noch ein kleiner Schorf zu sehen. Wieder einmal muss ich unangenehmes aus dem Augustinum berichten.
Meiner Mutter geht es zunehmend schlechter. Sie nahm stark ab und hat einen trockenen Husten, wegen dem sie vor einer Woche (am 3. September Antibiotika angeordnet bekam). Der Husten ist immer noch da. Als ich sie am Freitag gegen 16 Uhr besuchte, lag sie angezogen und zugedeckt im Bett. Dass sie angezogen war, sah ich erst, nachdem ich sie gegen 18 Uhr dazu brachte, doch eine Kleinigkeit im Wohnzimmer zu Abend zu essen.
Doch auf das Unangenehme stieß ich, nachdem ich einen Blick in das Kardex geworfen hatte. Ich sah dort, dass meine Mutter nach wie vor gegen Morgen 4 bis 6 Uhr über die Gänge wandert, an anderen Appartements läutet oder weil recht verängstigt laut um Hilfe ruft. Dann stieß ich auf die interne E-Mail, die ich Ihnen in Abschrift und Original zum FAX beigelegt habe. Hieraus geht hervor, dass meine Mutter nun auf ihre letzten Tage in der Angst lebt, nach Haar gebracht zu werden. Ebenfalls lässt sich aus der handschriftlichen Anmerkung schlussfolgern, dass dies eine Kabale des Pflegepersonals war, um eine störrische Patientin zur Raison zu bringen. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass meine Mutter, die noch vor vier Wochen Knöpfe an ihre Jacken nähte dazu übergegangen ist, Bettwäsche mit der Schere zu zerschneiden.
Ich bitte Sie daher um Ihren Anruf heute Montagmittag.
Herzlichen Gruß
Dazu war auch diese E-Mail (wortgetreu) im Pflegeprotokoll abgeheftet:
Bew. hat sich in der Nacht Nachthemd, Kopfkissen und Kissen mit die Schere geschnitten. Überall in Schlafzimmer liegen Feder.
Sie hat mich gebeten niemanden zu sagen, sonst wird sie nach Haar geschickt.
Mit freundlichen Grüßen (Name)
Diensthabende
Signum Augustinum
Besonders erschreckend empfand ich die Unverfrorenheit, mit der erst gar nicht versucht wurde, die böse Absicht zu verbergen. Mit den Worten: „Na, hat prima geklappt!“, brüstete man sich gar noch. Da wird in einem evangelischen Luxus-Altenheim eine 93jährige Frau zu ihrer dementen Furcht nochmals mit dem Popanz ihrer Verlegung ins Irrenhaus geschreckt, von dem sie die furchterregenden allgemeinen Stereotype im Gedächtnis hat. Ja, und man verbirgt seine Niedertracht nicht einmal, sondern protokolliert sie gar noch.
Der Machtmissbrauch, dem hier meine Schwiegermutter ausgesetzt war, zählt mit zum Missbrauch, der in Institutionen immer wieder vorkommt. Hier können nur strikte Präventionsprogramme vorbeugen. Vor allem müssen diese Präventionsprogramme regelmäßig neu vermittelt werden, nur dann bieten sie eine gewisse Verlässlichkeit, dass sich im Pflegealltag nicht wieder Formen weißer Gewalt oder sexualisierter Gewalt einschleichen und übersehen wie geduldet werden.
Aus meiner Zeit als Kind im evangelischen Waisenhaus Spengelhof erlebte ich die Strukturen weißer Gewalt an der eigenen Seele. Besonders schmerzlich war dabei das Gefühl der Hilflosigkeit. Es setzte sich für lange Zeit in meinem Leben fort, denn eine Folge meines Missbrauchs war meine langjährige Drogensucht, die auch ein Leben in auswegloser Hilflosigkeit war. Während also auf der Seite der Missbraucher und Misshandelnden das Machtgefühl triumphiert, zersetzt die Hilflosigkeit auf der Seite ihrer Opfer die Seelen und damit auch die Persönlichkeiten.
Im übrigen erahne ich tagtäglich weiße Gewalt gegenüber Kindern in der Öffentlichkeit. Es ist die kalte, dominante Überlegenheit von Müttern und Vätern im Umgang mit ihren Kindern, denen sie ihre Eigenständigkeit und Wesenszüge mit anscheinender moralischer und ethischer Kompetenz wegätzen. Auch hier sehe ich, wie Hilflosigkeit die Augen der Kinder und somit ihre Seele verdunkelt.