„Aufschrei“ war mal ein Hashtag bei Twitter, für den die Initiatorinnen gar einen Grimme-Preis erhielten. Anlass war die Fülle einer Dirndl-Balkonette, also etwas, was Frau ausstellt, um Nichtbeachtung zu finden. Beachtlich war hingegen die scheinbare Beachtung des Hashtags – scheinbar deswegen, weil die wenigsten Beiträge sich mit dem eigentlichen Thema: „unverschämte Anmache“, befassten. Ein Phänomen, das bei jeder Sau auftritt, die durchs Dorf getrieben wird. Das Sautreiben ist die eigentliche Gaudi.
Im Gegensatz dazu findet alltäglich ein anderes wirklich verbrecherisches Treiben statt, zu dem es noch nie einen Aufschrei oder gar trendigen Hashtag gab. Ich meine den alltäglichen Missbrauch sowie die Misshandlung von Kindern im häuslichen Bereich. Wenigstens 80 % aller Missbrauchsfälle finden in Familien und ihrem Nahbereich unter Verwandten und Bekannten statt. Sie gelangen nur selten ans Licht der Öffentlichkeit; wohl auch deshalb, weil nur etwa 10 % der Fälle angezeigt und noch weniger abgeurteilt werden. Über das skandalöse Schweigen darüber habe ich schon öfters gebloggt. Ich halte es für eine wesentliche begünstigende Struktur von Kindesmissbrauch.
Zuletzt stieß sie mir übel auf, als ich Carl Ricés Hörbuch besprach (Link hier). Er schildert darin, wie ein Lehrer auf seine Hämatome aufgrund der Prügelorgien seines Stiefvaters aufmerksam wurde und diesen bei einem Hausbesuch damit konfrontierte. Der Stiefvater konnte dem Lehrer den Verdacht der Kindesmisshandlung ausreden. Ja, als Carl am anderen Tag mit frischen Schlagspuren im Turnunterricht erschien, hielt ihm der Lehrer gar vor, dass er sie durch sein Verhalten provoziert hätte. Später wandte sich der kleine Carl persönlich um einen Heimplatz an das Jugendamt und wurde dort abgewiesen. Ein letzter Versuch, sich beim staatlichen Vormund Hilfe zu holen, wurde von diesem ebenso abgewiesen.
In diesem Fall war es das Opfer selbst, dass Hilfe einforderte und dem niemand zuhören wollte. Dass ein missbrauchtes und misshandeltes Kind um Hilfe bittet geschieht selten. Dass aber die Zeichen, die ein solches Kind sendet, übersehen werden, geschieht ebenso selten. Diese Zeichen sind zwar zwiespältig; zum Beispiel ein besonders aggressives oder ungewöhnlich stilles Verhalten, aber dennoch erkennbar. Mal exponiert das Kind die erlittene Aggression, mal zieht es sich zurück und meidet Kontakte zu Erwachsenen. Aber eins ist sicher, egal wie das Verhalten sich verändert, es gibt Erwachsene in seiner Umgebung, die die Zeichen bemerken aber nicht wahrhaben wollen. Statt nachzufragen oder hinzuschauen, diminuieren sie sie und erklären sie sich selbst weg. Sie scheuen sich davor, die Bezugspersonen des Kindes anzusprechen, weil sie sich vor deren Reaktionen fürchten; teilweise hatten sie schon ungute Erfahrungen gemacht, indem sie eine schroffe Abweisung erlitten oder gar bedroht wurden; oder aber sie erleben das gleiche, dass Carl erlebte, als er sich als Kind an Jugendamt und Vormund wandte: sie werden ignoriert oder abgewiesen, so wie es Jens R. 2016 im Missbrauchsfall auf dem Campingplatz in Lügde widerfuhr (siehe Link).
Andererseits sind es ihrerseits die lieben, taubblinden Nachbarn, die sich den Mund zerreißen und dabei deutlich selbst erblöden, sobald in ihrer Nachbarschaft ein Missbrauchsfall aufgedeckt wurde. So gab es bei uns im Dorf „die Wunderlich“, eine 17-Jährige, die von ihrem von ihrem Vater ein Kind zur Welt brachte. Der Vater ging dafür ins Zuchthaus. Sie aber lief Spießruten vor den bösen Zungen sowie hämischen als auch anzüglichen Bemerkungen. Dabei waren es diese Spießer, die zuvor die erkennbar prekären Verhältnisse in der Familie übersahen, weil ihnen die Zivilcourage fehlte, den Vater zu stellen oder ihren Verdacht bei einer zuständigen Stelle zu melden.
Ja, lieber sieht man weg, wenn ein Vater sein Kind ohrfeigt, oder eine Mutter es verbal niedermacht. Während ersteres in der Öffentlichkeit rar geworden ist, sind verbale Attacken vielfach zu hören, durch die ein Kind von seinen Eltern seelisch verletzt wird. Diese Art der Kindesmisshandlung hinterlässt keine sichtbaren Spuren, doch sie schädigen ein Kind oft für den Rest seines Lebens. Deshalb zählt psychische Misshandlung auch zwingend zum Kindesmissbrauch.
Dieser Tage hörte ich wiederholt ein Kind in meiner Gasse abends greinen. Das Greinen tönte aus einer Wohnung, doch ich konnte nicht ausmachen woher. Als ich den Müll herunterbrachte, hörte ich es wieder. Nun konnte ich es orten. Also läutete ich bei der zugehörigen Wohnung. Der Vater kam heraus und ich sagte, dass ich sein Kind die letzten Tage immer wieder greinen höre. Er meinte schroff, ein Kind weine nun mal, zumal es zur Schlafenszeit ins Bett gebracht würde. Darauf ging ich nicht ein und ergänzte, wenn ein Kind so anhaltend weine, dann stimme doch was nicht mit ihm und das würde mich sorgen und fragte, ob es seinem Kind schlecht ginge. Da wurde er verbindlicher und erklärte, dass alles in Ordnung sei. Er habe anfänglich gedacht, ich beschwerte mich über Kinderlärm, er sehe aber nun, dass ich mich um sein Kind sorge. Ja, er bedankte sich für meine Aufmerksamkeit und wir verabschiedeten uns als gute Nachbarn.
Es war nur eine kleine Begebenheit und ich wünsche mir, um der Kinder willen, dass sie häufiger geschähen, sobald man sich um ein Kind sorgt. Die wenigsten wagen es allerdings, Leute anzusprechen, wenn sie sich um ein Kind sorgen. Ja, das hat durchaus etwas mit Zivilcourage zu tun; nur ich halte das für den falschen Begriff. Es geht schlicht um Mitempfinden und Menschlichkeit, wenn man solche Momente nicht schweigend übergeht und sich selbst beschwichtigt; schließlich geht es nicht um unser Seelenheil, sondern um das eines womöglich hilflosen Kindes. Dass man dabei nicht immer auf so freundliche Reaktionen stößt, wie eben skizziert ist ebenso normal. Denn macht man seinen Mund auf, fühlt sich das Gegenüber, so wie auch hier zuerst, womöglich angegriffen. Es ist eine erste Reaktion, die sich freilich überwiegend rasch entspannt. Nur da, wo man auf einen echten Mißstand trifft, beginnt der getroffene Hund zu bellen. Auch das erlebte ich. - Sofern es in der Nachbarschaft geschieht, sollten Sie sie sich beraten lassen, wo sie Hilfe finden. Leider gibt es dafür aber keine spezielle Notrufnummer. Das Familienministerium (BMFSFJ) hält zwar eine Internetseite für alle möglichen Fälle vor; jedoch nicht für den simplen Fall, wo sie Rat für ihre Sorgen bei Verdacht auf Kindesvernachlässigung erhalten.
Gleichwohl hier die Seite des BMFSFJ für Krisentelefone. Interessant auch, dass hier Frauen und Kinder berücksichtigt sind, Männer aber offensichtlich in den Augen der administrativen Politik in keine Krisensituation kommen können. – Doch das ist wieder ein anderes Thema …