
Nachstehend ein Nachruf von Matthias Katsch, dem Mitinitiator des Eckigen Tisches, auf Papst Benedikt XVI., der hierzulande seinen bürgerlichen Namen nie verlor, sondern der Ratzinger blieb. Das war freilich keine kumpelhafte Vereinnahmung, sondern eine gewisse Distanz zu einem Distanzierten, der nie ein wahrer Papa wurde. Er starb auf Silvester 2022.
Papst Silvester war der erste heiliggesprochene Papst, der kein Martyrium erlitt. Er brach somit ungewollt mit einer „Tradition“, die jedoch mit ihrer masochistischen Hagiografie seitdem die katholischen Gotteshäuser dominiert und somit unbedacht aber durchaus gewollt eine sexualisierte oft homoerotische Note der Andacht zur Seite rückte.
Auch Papst Benedikt brach mit einer Tradition, er trat zurück – und hinterließ mit dem schwärenden Missbrauchsskandal ein unaufgeräumtes, ja liderliches Haus. Deswegen betitelte ich den Nachruf von Matthias Katsch mit Lapidarium, der Bezeichnung für eine Sammlung alter Gedenksteine. Ratzinger ist ein solcher Brocken und man wird lange über ihn brüten und grübeln. Doch damit über derlei sinnieren nicht das eigentliche verlorengeht, hier ein Klartext von Matthias Katsch, den ich mit seiner freundlichen Genehmigung veröffentliche.
Tod von Papst Benedikt – Er hat die Verbrecher geschont
von Matthias Katsch vom 04.01.2023
Joseph Ratzinger verkörperte wie kein Zweiter die institutionellen Eigenheiten der katholischen Kirche, die mit ihren geheimnisvollen Ritualen Menschen vielfach fasziniert und unter der zugleich sehr viele Menschen zu leiden hatten und haben. Den tausenden von Missbrauchsopfern seiner Kirche in aller Welt wird er in unguter Erinnerung bleiben als langjähriger Verantwortlicher jenes Systems, dem sie zum Opfer fielen.
Der von Wegbegleitern als empfindsam und hochbegabt beschriebene Theologe gehörte seit früher Jugend zu jener kleinen Kaste, die ein (vorgebliches) Leben ohne Sex und Paarbeziehung gegen Macht, Schutz und lebenslange Versorgung eintauschen, um die mehr als eine Milliarde Katholiken zu regieren. Über Jahrzehnte verteidigte und repräsentierte er dieses klerikale Herrschaftssystem.
Als dreizehnjähriger Junge wurde er auf ein kirchliches Seminar geschickt, um sich auf den Priesterberuf vorzubereiten. Wir wissen heute, dass diese Einrichtungen häufig Brutstätten von Gewalt und Missbrauch waren. Falls er damit in Berührung kam, sprach er nie davon. Dass er aber, obwohl aus einfachen Verhältnissen stammend wie sein älterer Bruder Georg auf eine weiterführende Schule gehen und studieren konnte, verdankte sich der Bereitschaft sich dem Zölibat zu verschreiben und Priester zu werden. Diese „freiwillige Ehelosigkeit“ im Austausch für lebenslange Versorgung und Zugang zu Leitungsaufgaben stellt für uns heute eine Instrumentalisierung von materieller Not zum Zwecke der Nachwuchsrekrutierung dar, trägt aber zugleich auch zur besonderen Aura der katholischen Kirche bei. Bis zu seinem Tod bewegte er sich nun 80 Jahre ausschließlich in den Sphären der katholischen Kirche.
Er diente ihr als Priester und Theologieprofessor. Als Münchner Erzbischof erlaubte er einem notorischen Missbrauchstäter, dem aus dem Bistum Essen nach München zur Behandlung überwiesenen Peter Hullermann die Rückkehr in den Pfarrdienst in Gemeinden in Oberbayern, wo dieser Serientäter in der Folge jahrzehntelang weiter Kinder missbrauchte.
Diese Großzügigkeit gegenüber Tätern hat er auch bei anderen Fällen gezeigt, die ihm in seinen 25 Jahren an der Spitze der Glaubensbehörde in Rom bekannt wurden. Wenn er nicht gerade Abweichler maßregelte, oder kritischen Theologen Sprech- und Schreibverbote erteilte, war er in seiner Funktion für die Disziplinarverfahren gegen Kleriker zuständig, die Kinder missbraucht hatten.
Er zeigte große Milde selbst mit schlimmsten Verbrechern wie dem Priester Lawrence Murphy der viele gehörlose Kinder missbraucht hatte und nicht aus dem Priesterstand entlassen wurde, um dem inzwischen Erkrankten die letzten Tage nicht zu beschweren. Theologischen Abweichlern und Befreiungstheologen begegnete er hingegen mit administrativer Kälte und Empathielosigkeit.
Um die Bischöfe in den USA, die dort wegen der Enthüllungen über zahlreiche Missbrauchsverbrechen schon in den 90 Jahren unter Druck standen, zu entlasten, erließ er eine Anordnung, dass künftig alle Akten Missbrauchsfälle betreffend in seine Glaubenskongregation übermittelt werden sollten. Denn hier in Rom, auf exterritorialem Gebiet des Vatikanstaats, waren diese Akten sicherer als in den Bistümern, wo jedenfalls in den USA Durchsuchungen und Beschlagnahme bis hin zu Beugehaft für Bischöfe drohte, wenn sie diese den Gerichten nicht überließen. Das Päpstliche Geheimnis, dass den Umgang der Kirche mit diesen Tätern umgab, löste erst sein Nachfolger bedingt auf.
Bald schon sollten tausende Fälle aus aller Welt in seinen Büros eintreffen und die kleine vatikanische Bürokratie überfordern, wie es mal ein Mitarbeiter schilderte. Als dann 2010 auch in seiner Heimat Missbrauchsfälle bekanntwurden, äußerte er sich dennoch überrascht. Über die Gewalt- und Missbrauchsverbrechen bei den von seinem Bruder lange Jahre musikalisch betreuten Regensburger Domspatzen hat er sich nie geäußert. Was er bei seinen regelmäßigen Besuchen in Regensburg mitbekommen hatte, bleibt sein Geheimnis.
Sein größtes Versäumnis in dieser weltweiten Missbrauchskrise der katholischen Kirche war ohne Zweifel der Fall Marcial Maciel. Der Gründer der Ordensgemeinschaft Legionäre Christi, ein gewissenloser Schauspieler und skrupelloser „Witwenschüttler“, hatte über Jahrzehnte Kinder und Jugendliche die ihm zur kirchlichen Ausbildung anvertraut waren sexuell missbraucht, und nebenbei ein Milliardenvermögen zusammengerafft. Letztere Fähigkeit sollte ihn bis zu seinem Tod praktisch unantastbar machen, obwohl er die Unverfrorenheit besessen hatte, seine Lebensgefährtin und seine eigene Tochter unerkannt zu einer Papstaudienz mitzubringen. Seine Söhne aus einer Beziehung mit einer anderen Frau hat er ebenfalls missbraucht. Zu Lebzeiten des inzwischen heiliggesprochenen Johannes Paul II., der Maciel protegierte, ging Ratzinger nicht gegen den Erzschurken vor, obwohl er von Opfern früh auf die Verbrechen hingewiesen wurde. Er bestrafte Maciel nach seiner Wahl zum Papst „mit einem Leben in Buße und Gebet“. Den von Maciel gegründeten Orden, in dem es nicht wenige Mitwisser und Komplizen gegeben hatte, ließ er aber unangetastet, um das Vermögen für die Kirche zu bewahren.
Er war in seiner Amtszeit wie kein Vorgänger mit sexueller Gewalt durch Kleriker konfrontiert, weil sich draußen in der Welt der Wind gedreht hatte, und allmählich das Tabu nachließ, zuerst in den USA, später auch in Irland und schließlich bei uns. Mehr und mehr Opfer meldeten sich Wort. Bis in die 60er Jahre war das Tabu generell beim Thema Sexualität sehr stark gewesen und beim Missbrauch noch einmal stärker. Er hat das nicht verstanden. Für ihn war die Liberalisierung der Sexualmoral ab den 60er Jahren der Grund für die vielen Missbrauchsfälle. Dabei war es umgekehrt: die Liberalisierung hatte es erst möglich gemacht, dass die Fälle an die Oberfläche kommen konnten.
Seinen Rücktritt umgeben bis heute Gerüchte. Bei der Recherche für den Film „Verteidiger des Glaubens“ (2019) von Christoph Röhl konnten wir den Verdacht letztlich nicht beweisen, aber es erschien uns mehr als wahrscheinlich, dass sein Rücktritt auch mit der Erkenntnis zusammenhing, dass er an der Spitze seiner Kirche von Lügnern, Betrügern und Missbrauchstätern umgeben war. Nach dem Tode seines Mentors 2005 wollte er die Zügel selbst in die Hand nehmen, ermuntert und manchmal aus instrumentalisiert von seinem Umfeld. Doch wie ein Zauberlehrling ist er an dieser Aufgabe gescheitert. Sein größter Dienst an der Kirche war tatsächlich sein Rücktritt.
Auch danach wollte er aber nah dranbleiben. Statt sich tatsächlich zurückzuziehen und zu schweigen, äußerte er sich immer wieder in bekannter Manier zu Streitfragen der Kirchenpolitik und zu Themen rund um den Missbrauchsskandal. So war er scheinbar wirklich überzeugt, dass nicht die absurde Sexualmoral seiner Kirche sondern vielmehr die Befreiung der Menschen aus dieser Unterdrückung in der Moderne die Ursache für die vielen tausend Missbrauchspriester weltweit war.
Der von kirchenpolitischen Unterstützern sogenannte „Mozart der Theologie“ war am Ende einfach steckengeblieben im Abwehrkampf gegen die Moderne. Wo sein großer Rivale Kardinal Martini feststellte, die Kirche sei 200 Jahre hinter der Zeit zurückgeblieben und müsse diesen Rückstand dringend aufholen, hielt Ratzinger an einem Kirchenbild fest, dass starr gegen diese Moderne stand, frei nach dem Motto „Die Kirche, die hat immer Recht, und außerhalb kein Heil.“
Er wollte seine Kirche erneuern, doch nach seinen Vorstellungen. Dafür hat er Theologen mundtot gemacht und Erneuerungsbewegungen an der Basis bekämpft. Er ist zweifelhafte Allianzen eingegangen und hat Milde gegen Verbrecher gezeigt – ein hoher Preis für ein letztlich gescheitertes Vorhaben. Denn am Ende ist die katholische Kirche erneuerungsbedürftig wie nie.