Lena Christ lebte um die Jahrhundertwende (1881-1920) in Glonn und München; sie wurde 38 Jahre alt. Ihre Kindheit verbrachte sie bei ihrem Großvater und ihrer Stiefgroßmutter in Glonn. Nachdem ihre Mutter einen Münchner Wirtsmetzger geheiratet hatte, nahm sie ihr siebenjähriges Kind wieder zu sich. Damit endete für Lena Christ eine behütete Kindheit und ein Albtraum begann. Sie musste in der elterlichen Wirtschaft schwere Arbeiten verrichten und wurde von der Mutter übel misshandelt. So wurde sie schon beim kleinsten Ungeschick oder einem falschen Wort mit einem Ochsenziemer oder Schürhaken blutig geschlagen und war beständig unterernährt.
Der Grund für die Missachtung und Misshandlung durch die Mutter bestand offensichtlich in ihrer unehelichen Geburt. Ein Makel, der der erzkatholischen Mutter zusetzte und wofür sie sich öfters vernehmbar den Tod der Tochter herbeisehnte.
Lena Christ hielt das Grauen ihrer Kindheit in ihrer Autobiografie „Erinnerungen einer Überflüssigen“ fest. Ich las das Buch dieser Tage und war erschrocken über die Grausamkeit und Verachtung, der sie ausgesetzt war. Ebenso war ich immer wieder getriggert, denn die Bilder meiner blutigen Prügel durch den Vater schossen mir wieder mit all ihren Nebensächlichkeiten wie Tageszeit, Geruch und Geräusch ins Gemüt.
Immer wieder prügelte die Mutter Lena Christ in rasender Wut. Mit acht Jahren floh sie deshalb aus München durch die Nacht in das 30 Kilometer entfernte Glonn zu ihren Großeltern. Dort fand das verwundete Mädchen für ein knappes Jahr wieder Aufnahme. Doch dann musste sie zu ihrer Mutter in die Hölle zurück. Beistand fand sie dort nur gelegentlich im Stiefvater, der versuchte, die Mutter zu mäßigen.
Als die fünfzehnjährige Lena wegen einer verschleppten Diphterie während ihrer Arbeit einschlief, schlug sie die Mutter einmal mehr mit dem Ochsenziemer krankenhausreif. Das Mädchen floh daraufhin aus dem Haus. In einem nahen Vorort suchte sie vor Erschöpfung und Schmerz Schutz in einem Gasthof. Man brachte sie jedoch anderntags wieder zurück in die Stadt. Dort warnte sie ein Nachbarskind, nur ja nicht nach Hause zu kommen, die Mutter wütete immer noch und wolle sie erschlagen.
In ihrer Not ging Lena Christ zur Polizei. Die Beamten dort waren über die Blessuren ihrer Misshandlung entsetzt und fanden deutliche Worte über die Mutter. Sie brachten das Mädel sofort ins Krankenhaus. Auch der dortige Arzt ließ sich laut über die Untat der Mutter aus: „Diese Bestie! Das Schandweib! Und so was nennt sich Mutter!“, schrie er im Krankensaal, als er das schwerkranke und geschundene Kind untersuchte. Deutliche Worte in einer Zeit, wo man gemeinhin bei der Kindererziehung meinte, gelegentlich auch eine harte Hand zeigen zu müssen.
Als die Mutter nach drei Wochen Krankenhausaufenthalt ihre Tochter im Krankensaal besuchte, schrie sie sie an: „So da bist! Was du deinen armen Eltern angetan hast, übersteigt alle Grenzen. Da heraußen muss man dich finden und hättest es so schön gehabt daheim. Hätt dir kein Mensch weg getan!“ Und schließlich schluchzte sie in Selbstmitleid: „So ein ungeratenes Kind! Einem so viel Verdruss zu machen!“ Und obwohl der behandelnde Arzt Lena noch im Krankenhaus behalten wollte, zwang sie ihn, ihre Tochter zu entlassen.
Um der Mutter und ihrer fortgesetzten Prügel zu entkommen ging Lena Christ als Novizin in das Kloster Ursberg. Dort war sie der Niedertracht und Scheinheiligkeit ihrer Mitschwestern ausgesetzt, die ihr das Leben vergällten. Nach eineinhalb Jahren ging sie zur Mutter zurück. Schließlich willigte sie in eine Verlobung ein, die die Mutter arrangiert hatte. Kurz nach ihrem 20. Geburtstag heiratete sie.
Am Morgen der Hochzeit verfluchte die Mutter sie mit den Worten: „Und meinen Wunsch will ich dir auch noch sagen: Du sollst keine glückliche Stund haben, so lang du dem Menschen gehörst, und jede gute Stund sollst mit zehn bittere büßen müssen. Und froh sollst sein, wennst wieder heim kannst, aber rein kommst mir nimmer. Jetzt weißt es!“ Und in typischer Double-Bind-Manier sagte sie kurz darauf, als der Bräutigam sie zur Kirche abholte süßlich: „Viel Glück, mein liebes Kind! Jetzt gehst halt und lässt mich allein! Bleib mir gesund und vergiss mich net!“
Dann schreibt Lena Christ, wie sie sich am Hochzeitsabend von der Mutter verabschiedete und sie eine große Sehnsucht nach ihrer Liebe überkam, und sie ihr um den Hals fiel. Die Mutter aber löste die Umarmung und schob sie von sich. – Auch dies ein Moment, den jedes in Missachtung aufgewachsene Kind kennt; weil es sich seiner Lebtag immer wieder nach der Liebe sehnt, die man ihm nie gewährte, und die ihm die lieblose Person auch niemals angedeihen lassen wird.
Letztlich erfüllte sich auch der böse Wunsch der Mutter. Ihr Ehemann war ein Trunkenbold, der Lena Christ wiederholt nicht nur im Ehebett, sondern auch im Kindbett sowie einmal, während die Wehen bereits eingesetzt hatten, vergewaltigt hatte.
Mich hat an Lena Christs Autobiografie vor allem irritiert, wie emotionslos sie ihr Elend schildert, als wäre es nur eine Auflistung mieser Daten und als käme sie in der ganzen Geschichte nicht vor. Auch fehlt jede tiefergehende Reflexion der Grausamkeiten, sie sucht weder in der Mutter, noch in sich selbst oder den gesellschaftlichen Umständen nach einer Erklärung für die Schrecklichkeiten, denen sie ausgesetzt war. Das geschah einfach. Fertig. So liest sich der bittere Fatalismus eines Menschen, dem man buchstäblich die Seele aus dem Leib geprügelt hatte. – Ähnlich emotionslos betrachtete ich im übrigen auch bis zu meinem 59. Lebensjahr meine eigene Geschichte. Ich funktionierte, hatte Albträume und litt nicht, weil ich gepanzert war und so keine, das traumatische Geschehen betreffende Regung in mich oder aus mir drang. So triggerte mich nichts, und ich hatte nichts zu „leiden“.
Ihre Seele fand Lena Christ nicht mehr wieder, sie war ihr totgeschlagen worden. Sie war und blieb schwer traumatisiert. Ein Umstand, den ihr zweiter Mann der Schriftsteller Peter Benedix durchaus erkannte, er schrieb zum Beispiel über die posttraumatischen Zustände seiner Frau:
„Das psychische Leiden, von dem meine Frau befallen war, äußerte sich in Bewusstseinstrübungen, ja bis ans Irresein grenzenden Störungen“, schreibt er später über sie. „Sie sah nichtvorhandene Dinge und Menschen“, zum Beispiel immer wieder ein Kind, das vom gegenüberliegenden Dach zu stürzen drohte. Nachts stößt Lena Christ lautes Stöhnen und Hilferufe aus, weil sie von ihrer Mutter träumt. „Sie war beständig auf der Flucht vor sich selbst oder ihren Dämonen“, schreibt Benedix. „Es geht solchen Leuten nicht anders als einem Flüchtling, der durch einen finsteren Wald läuft und hinter sich die Stimmen der Verfolger hört.“ (Quelle: Die Zeit)
Benedix besorgte seiner verzweifelten Frau schließlich Zyankali, mit dem sie, auf einem Grab im Münchner Waldfriedhof liegend, ihr Leben beendete. Der Suizid ist auch heute noch bei schwer posttraumatisierten Menschen – die keine oder zu spät eine Therapie finden – oft genug der verzweifelte Ausweg aus einem trost- und hoffnungslosen Leben. Zudem war in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg halb Europa mit Millionen traumatisierten jungen Männern bevölkert. Und an den Auswirkungen ihrer nicht ausgeheilten Traumata leiden wir auch heute noch in der dritten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Psychotherapie entwickelte sich, als Lena Christ lebte, gerade erst. Die klinische Behandlung posttraumatischer Zustände begann zudem erst nach dem Desaster des letzten Vietnamkrieges, als immer mehr ehemalige amerikanische Soldaten ihr seelisches Leiden an den Kriegseindrücken nicht mehr verbargen. Auch gab es hier eine Selektion in arm und reich, denn die gleichfalls traumatisierten Vietnamesen blieben psychotherapeutisch unversorgt; ebenso wie die traumatisierten Opfer des Holocaust und die überlebenden Soldaten des Zweiten Weltkrieges.
Ein Dilemma, das sich in anderer Weise mit den Opfern sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend fortsetzt. Diese Personen wurden häufig über viele Jahre schwer traumatisiert und sind in ihrer Seele abgrundtief erschüttert und zersplittert. Doch auch sie müssen mit läppischen 80 Stunden „Langzeittherapie“ auskommen, um ihre jahrzehntelange Schändung und seelische Zertrümmerung auszukurieren. – Bedenke ich diesen Satz, wird mir echt übel, angesichts der Indolenz der politisch Verantwortlichen, die in Gestalt von Mitgliedern der Grünen und der SPD auch Täter waren und nun mit stattlichen Pensionen aus den Parlamenten scheiden, in denen sie nichts für die, auch durch sie zumindest mittelbar traumatisierten Missbrauchsopfer getan haben, um ihnen eine ausreichende – und das heißt eine zeitlich unbefristete Therapie – zu gewährleisten.
Gefallen kann mir dies nicht.
Aber dieses Buch sollten wohl so viele „Helfer“ und „Be-urteilende“ lesen, wie nur möglich.
Ich bin sehr betroffen.
Danke für diesen Text.
LikeGefällt 1 Person
„Mich hat an Lena Christs Autobiografie vor allem irritiert, wie emotionslos sie ihr Elend schildert, als wäre es nur eine Auflistung mieser Daten und als käme sie in der ganzen Geschichte nicht vor. Auch fehlt jede tiefergehende Reflexion der Grausamkeiten, sie sucht weder in der Mutter, noch in sich selbst oder den gesellschaftlichen Umständen nach einer Erklärung für die Schrecklichkeiten, denen sie ausgesetzt war. Das geschah einfach. Fertig.“
Mich wundert dieser Umstand keineswegs. Fast alle Männer, mit denen ich einmal darüber sprach, was sie in ihren Familien oder von ihren Frauen erdulden mußten, verhielten sich so – ein Hinweis, daß wir das Leben vieler Männer noch lange nicht verstehen und nicht mal im Ansatz adäquar beschreiben.
LikeGefällt 1 Person
Wie wenig wir Männer selbst über uns Männer wissen, liegt mit daran, dass wir uns auch selten über unsere Schmach und Schwächen austauschen. Das haben uns die Mütter rasch aberzogen, und die Väter so vorgelebt. Darum wohl gehen so viele Männer in den Puff, um dort einer Prostituierten ihre Not zu erzählen. Jedenfalls finden sie im Beichstuhl nicht das richtige Gehör …
LikeLike
Volle Zustimmung.
LikeLike