Strukturen des Missbrauchs am Beispiel der Verachtung

Missachtung ist bereits Verachtung. Jeder der einen Gehbehinderten kennt, mag das bei ihm erfragen. Denn hat ein Bahnsteig keinen barrierefreien Zugang, wird der Gehbehinderte ausgeschlossen. Er kann an dieser Station weder aus- noch einsteigen. Er wird missachtet, und damit auch als Person verachtet.

Als ich heute die Presseerklärung von Detlev Zander vom Netzwerk BF e.V. zum Missbrauchsskandal der Brüdergemeinde Korntal las (Link hier), fiel mir wieder die Verachtung auf, mit der die Nachfolger der Täter in Korntal die Überlebenden von Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung behandeln. Wie eifrig sie ihr eigenes Bild reinwaschen wollen, darüber aber die Überlebenden ihrer Schändlichkeit übersehen. Übersehen aber ist althergebrachte höfische Verachtung, sie steht auch den Pfaffen und Prälaten gut zu Gesicht; denn auch der Dünkel hat seine Mimik in verlogener maskenhafter Glätte und Starre. Ich kenne das von einem Kollegen, der sich als Missbrauchsopfer auf die Täterseite schlug. Auch er trägt diese pfäffische Wächsernheit im Gesicht. Detlev Zander, ein Überlebender, wird von den Verantwortlichen der Brüdergemeinde Korntal verachtet. Er wird auch von der mittelbar verantwortlichen evangelischen Landeskirchen Württemberg verachtet. Man trat mit ihm nur notgedrungener Weise ins Gespräch, spaltete erfolgreich die Gruppe der Betroffenen und wehrte somit angemessene Entschädigungsforderungen ab.

Beim Lesen der Presseerklärung erinnerte ich mein Anliegen, zur Purple Christmas ein Zeichen zu setzen (Link hier), und dachte kurz darüber nach, wie ich im nächsten Spätherbst eine neue Kampagne starten sollte. Dabei fiel mir, sobald ich an Mitstreiter dachte, ein, dass ich von keiner der neun im Münchner Stadtrat vertretenen Parteien, trotz zweimaligem Anschreiben, eine Antwort erhalten hatte. Unmissverständlicher kann man seine Verachtung nicht kundtun. Meine Reaktion darauf war im Augenblick Zorn, zugleich reflektierte ich, genau so geht man mit Personen um, die man nicht wertschätzt, die man buchstäblich verachtet.

„Du bist mir keines Blickes würdig“, ist ein Verhalten, das bereits Kleinkinder zeigen, wenn sie einen Störenfried ausgrenzen wollen. Exakt das aber ist ein Geschädigter, im konkreten Fall ein Überlebender von Kindesmissbrauch, der auf sein Leid aufmerksam machen möchte. Er stört die Ordnung, die Harmonie der Vertuscher und Weißtüncher, also grenzt man ihn aus und straft ihn mit Verachtung. „Füttere keinen Troll“, heißt es im Internet, das heißt keinen Buchstaben an einen Troll verschwenden. Ebenso heißt es wohl unter Politikern: „Füttere keine Opfer“; denn sobald du dich als Mandatsträger ihnen zuwendest, wollen sie dich in Borderliner-Manier auf ihre Seite ziehen. – Dieserart müssen wohl die Befürchtungen sein, warum man jemanden wie mich mit einem ernsthaften, aus leidvoller Geschichte entstandenen Anliegen mit Nichtbeachtung straft.

In der katholischen Kirche zeigt man die gleiche Haltung gegenüber Opfern klerikalen Kindesmissbrauchs. Man wimmelt sie ab oder instrumentalisiert sie in inszenierten Begegnungen pfäffischer Zerknirschung; mal sind sie Störenfriede, mal Feigenblatt für die kirchliche Blöße, die da heißt: Vertuschung, Verzögerung, Verleugnung und Verharmlosung schlimmster Verbrechen. Ja, sie heißt auch Unterstützung von Kriminellen, die man in andere Sprengel versetzte, wo sie ihre Verbrechen gegenüber Kindern fortsetzten. Jeden Tag geschehen zudem weitere Verbrechen in der Kirche, denn sie hat keinen Überblick über die Kinderschänder in ihren Reihen, und sie besitzt nicht den Willen, diese Verbrechen erbarmungslos anzuzeigen und der weltlichen Justiz zu übergeben. Noch immer nimmt sie sich Sonderrechte heraus, und noch immer hofieren sie Regierungschef, die zur Privataudienz in den Vatikan reisen.

Diese fortgesetzte Verdunkelung ist kriminell und deswegen die katholische Kirche von oben bis unten eine kriminelle Organisation. Sie stellt aber auch eine millionenfache Verachtung gegenüber den Kindern und den Überlebenden dieser fortgesetzten Massenschändung dar. Die Missbrauchsskandale der katholischen Kirche wurden ja nicht erst 2018 oder 2010 aufgedeckt, sie sind vielmehr seit ungefähr 30 Jahren im öffentlichen Gespräch. Und lange davor, war sich die katholische Kirche ihres Abgrundes, der Kinderschänder in der Soutane bewusst. Vor beinahe 100 Jahren sah sich Papst Pius XI. genötigt, Bestimmungen zu erlassen, die den Umgang mit Priestern regelten, die gegen den Zölibat verstießen. Schon damals galten neben Unkeuschheit und Sodomie (womit Homosexualität gemeint war) der Kindesmissbrauch, als große Sünde, die von den Bischöfen direkt an den Vatikan zu melden war. Das ganze selbstverständlich geheim und unter Ausschluss der weltlichen Justiz. 1962 wurde die Crimen sollicitationis (Link hier) unter Papst Johannes XXIII. aktualisiert. Weiterhin galt die absolute Geheimhaltung der Verstöße. Begründet wurde die Neuauflage, mit den Beschwerden von Gläubigen, die sich bei der Beichte durch die sexualisierte Befragung der Beichtväter belästigt fühlten. Kindesmissbrauch war somit ein Umstand des Beichtgeheimnisses.

Höhnische Verachtung ist es also, was wir im Zusammenhang mit der katholischen Kirche und dem fortgesetzten Kindesmissbrauch erleben. Die Kirche spottet den Opfern und jeder Justiz. Wie eine Bande von Mafioso will sie weiterhin die „Verstöße“ selbst regeln. Mit im Boot ist eine willfährige Politik, die auf den Beistand der Priester zu ihren Gunsten zählt. Es ist wie im alten Babylon, Priesterschaft und Adel kungeln miteinander. So war und ist es möglich, dass sich unsere Justiz über Jahrzehnte korrumpieren ließ. Es gab keine Ermittlungen der Staatsanwaltschaften und keinen Untersuchungsausschuss zu den Missbrauchsskandalen. Auch der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) Rörig kungelte nach der letzten skandalösen Aufdeckung auf der Bischofskonferenz in Fulda 2018 weiter mit der Kirche, indem er am 23. November 2018 wenige Wochen nach der Veröffentlichung der MHG-Missbrauchsbrauchsstudie (Link) zusammen mit der Bischofskonferenz und der Ordensobernkonferenz eine Fachtagung unter dem Leitwort „Präventionserprobt!?“ (Link) veranstaltete. Seine Haltung gegenüber den Kirchen bleibt wohlgesonnen. Man bleibt im Gespräch und drängt einander nicht wirklich und vergisst dabei die Übersehenen, die Verachteten, die Überlebenden dieser Verbrechen.

Wie tief diese Kumpanei in den Köpfen der Mächtigen verankert ist, zeigte einmal mehr der UBSKM Rörig anlässlich der Bischofskonferenz in Fulda beim ZDF Morgenmagazin (MM) im Gespräch mit Kay-Sölve Richter. Hier ein Auszug (Video ab 2:47):

MM: Hätte der Staat nicht besser hinschauen und mehr tun müssen?

Rörig: Staat und Kirche haben eine starke Partnerschaft in Deutschland (…) Ich appeliere an Staat und Kirche jetzt Aufarbeitung ernst zu nehmen (…) Es bedarf klarer Ermittlungsbefugnisse zu den Akten, das muss jetzt geregelt werden (…) Vorschlag an Staat und Kirche, das jetzt im Vertragswege festzulegen.

MM: Die Opfervertreter fordern, dass es eine staatliche Aufklärung geben muss.

Rörig: Es muss eine Vereinbarung zwischen Kirche und Staat sein. Die Kirche hat eine sehr starke verfassungsrechtlich gesicherte Position in Deutschland, und das soll beachtet werden, und bei der Aufarbeitung sollen beispielsweise Persönlichkeits- und Datenschutz beachtet werden, aber eine absolut verbindliche Vereinbarung, ein Kirchenstaatsvertrag könnte eine gute Grundlage sein, um endlich umfassend aufzuklären und auch die Aufarbeitung unabhängig sicher zu stellen.

Also nicht Staat und Überlebende des Missbrauchs haben eine starke Partnerschaft, sondern Staat und Kirche. Nicht als Kinder von der Kirche geschändete Überlebende und Staat machen einen Vertrag, sondern Staat und Täter. Mit Verlaub, diese Denke ist Mittelalter, sie offenbart finsteren Feudalismus. Da wird über Tausende Opfer der Verbrechen hinweggeschaut, da wird über deren Köpfe hinweg mit den Tätern gesprochen, werden den Verbrechern Signale gesendet: Das ist Verachtung pur! Es ist vor allem deswegen schlimmste Verachtung, weil weder Interviewerin noch UBSKM bemerken, was hier eigentlich geschieht, nämlich eingefleischte Diskriminierung, Absonderung, Aussonderung, die Überlebenden sind überhaupt nicht im Blick, weder im Blick der Öffentlichkeit, noch im Blick dessen, der seine eigentliche Befassung mit ihnen in seiner Amtsbezeichnung trägt, sie sind nicht im Blick des UBSKM.

Das also sagte der Missbrauchsbeauftragte, nachdem sein Amt seit Frühjahr 2010, also seit über neun Jahren bestand. Das sagte er, nachdem seit über 30 Jahren über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche berichtet wurde. Und wieder prolongiert er die Ermittlungen und Entschädigungen in eine unbestimmte Zeit, nach der das, was bislang versäumt wurde, nicht mehr säumig sein wird. Dabei ist es seit Fulda erneut säumig. Nichts geschah. Nun wartet man auf ein Treffen der Bischöfe vom 21. bis 24. Februar im Vatikan. Und danach? … bleibt man weiter säumig. Das ist fortgesetzte Verschleierung und Verachtung. Diese Verachtung hat Methode und damit Struktur. Sie zählt zu den vielen Strukturen des Missbrauchs, die Kindesmissbrauch insgesamt ermöglichten und weiterhin ermöglichen werden. Sie signalisieren den Tätern, solange sie nur den richtigen Hintergrund haben, zum Beispiel eine starke Familie oder eine Kirche, wird es nicht so schlimm kommen.

Ja, das was der UBSKM da von sich gab, ist im Grunde kafkaesk. Ebenso könnte ein psychiatrischer Klinikarzt mit einem pädophilen Wiederholungstäter Vereinbarungen treffen, wie dieser gedenkt, seine Verbrechen „aufzuarbeiten“; anstatt sich auf das Rüstzeug der Strafgesetzgebung zu verlassen.

Die Verachtung der Überlebenden von institutionellen wie familiären Kindesmissbrauch zeigt sich auch in der Unwilligkeit des Staates, eine Entschädigungsregelung für Missbrauchsopfer zu finden. Würde sich nur ein Unternehmen so verhalten, wie die Kirche sich verhält, wären übermorgen schon gesetzliche Entschädigungsregelungen getroffen. Die Bahn muss, sobald sich ein Zug mehr als eine Stunde verspätet den Fahrgast entschädigen. Die Lufthansa muss, wenn Passagiere zu Schaden kommen, mit haften und den verursachten Schaden regulieren. Die Kirchen müssen nichts dergleichen. Sie können die Seelen von Kindern zerbrechen, sie durch klerikale Kinderschänder in den Tod treiben, sie ein Leben lang in Depressionen stürzen und ihnen schreckliche Posttraumata bescheren, und sie haften mit keinem Cent. Alle Leistungen, die Opfer bislang erhielten, waren freiwillige Leistungen, nur Goodwill krimineller Organisationen.

Hier zeigt sich ein weiterer Moment der Verachtung, und das ist die gesellschaftliche Indolenz gegenüber den Missbrauchsopfern. Sie werden auch von der Gesellschaft übersehen, viel interessanter ist ein Bischof Mixa, der als Kaplan einen Schüler ohrfeigte. Das ist hängen geblieben, der Name des Schülers wurde nie erwähnt. So geht der Fluch der Kinderschänder auf, ihre Schändlichkeit haftet den Überlebenden als Schande an. – Ich brauchte 50 Jahre, ehe mir meine Traumatherapeutin den Schuldkomplex mühselig ausreden und auflösen konnte, der mich seit der Vergewaltigung durch die Mutter bedrückte. Wie also soll ich von einer Gesellschaft erwarten, dass sie mich nicht scheel anschaut und sich keine schmutzigen Gedanken macht, wie es wohl dazu gekommen sein könnte. Hier haben es missbrauchte Jungen schwerer als Mädchen. Denn wer erigiert, wer penetriert, der kann doch nicht ohne Schuld sein … Doch, denn der Körper verrät jedes Opfer, ob männlich oder weiblich, und gerade dieser Verrat des Körpers, sein „Funktionieren“ ist ein Teil der Saat der Schuld, der Schande, mit der der Kinderschänder – in meinem Fall Mutter und Vater und eine weitere Frau – ihr Opfer infizieren. So wandeln sich die meisten Überlebenden zunächst zu Zombies, zu Ausgestoßenen und Verachteten, bis es einigen von ihnen mit großer Mühe gelingt, wieder ins Leben zurückzukehren.

Und für alle Gerechten, die sich am Wort Kinderschänder reiben wollen, es gibt noch mehr Wörter die auf Schändung enden: Grabschändung, Leichenschändung, Kirchenschändung, Kunstschändung, Denkmalschändung, Friedhofschändung, Tempelschändung, Tierschändung, Gedenkschändung, Ehrschändung. Sie alle basieren auf einer Schändlichkeit, um andere zu schänden, zu schinden, um ihnen seine Verachtung zu zeigen. Verachtung ist Schändung. Und wer die Überlebenden von Kindesmissbrauch missachtet und verachtet, schändet sie ein weiteres Mal, er begeht einen Akt der Opferschändung.

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