Strukturen des Missbrauchs am Beispiel des Spießertums

Die Mutter sitzt in der türlosen Toilettenkabine. Sie pinkelt. Ich stehe davor und sehe ihr zu. Dann steht sie auf, sie trägt ein buntes Sommerkleid. Sie winkt mich herbei: „Komm mal her“. Ich geh zwei Schritte auf sie zu. Sie steht breitbeinig vor der Schüssel, rafft ihren Rock, hebt ihn beidhändig hoch, umfasst den Rockschurz mit ihrer Linken und zeigt mit ihrer Rechten auf ihre Scham. „Da kommen die kleinen Kinder raus“, sagt sie. Ich schaue auf das schwarze Dreieck. So stehen wir für einen Moment voreinander. Dann fällt der Rock wieder. Sie trägt keine Unterhose.

Das war im Sommer 1956. Ich war fünf Jahre alt und mit meinen beiden Brüdern im Spengelhof einem Waisenhaus für Knaben untergebracht. Ich sah sie nur selten, denn ich war in der Spatzengruppe und sie auf zwei andere Gruppen verteilt. Am Abend saß ich mit dem restlichen Dutzend Buben und der Tante beim Abendbrot. Mir ging durch den Kopf, was die Mutter mir gezeigt hatte, also fragte ich die Tante: „Hast du auch Haare dort unten?“. Mir platzte darauf schier der Kopf, so heftig war die Ohrfeige, die mich ansatzlos traf. Es war ein wütender, schmerzhafter Schlag, der mir fast das Bewusstsein nahm. Das war’s. Die Tante aß weiter, die anderen Kinder wussten nicht worum es ging, und mir kullerten die Tränen über die Wange.

Ich verstand einmal mehr diese Welt nicht mehr. Was hatte ich falsch gemacht? Ich wusste es nicht. Dafür wusste ich nun, dass die Tante auch Haare da unten haben musste, sonst hätte sie mich nicht derart geohrfeigt, und ich hatte zugleich begriffen, dass man darüber nicht spricht. So konnte die Mutter mich ungestört weiter sexualisieren und verziehen, bis sie mich zehn Jahre später ebenfalls im Sommer vergewaltigte.

Es war die Spießigkeit und Prüderie dieser Rummelsberger Erzieherin, die damals die Weiche zum Missbrauchsgeschehen stellte. Denn hätte sie besonnen reagiert und mich gefragt, wie ich darauf komme, so etwas zu fragen, wo ich so etwas schon gesehen habe, hätte ich ihr verraten, dass es mir die Mutter gezeigt hatte. Hätte sie das gefragt, wäre sie auch so weitsichtig gewesen, zu erkennen, dass ich in der Obhut der Mutter hochgradig gefährdet gewesen wäre. Jedenfalls wäre dann womöglich alles Nachfolgende, an Missbrauch und Misshandlung, nicht eingetreten.

So wurde ich ursächlich durch die Mutter und mittelbar durch die spießige Prüderie einer Erzieherin auf ein Gleis gesetzt, das nach 25 Jahren beinahe im Krematorium geendet wäre. Die Spießigkeit der Erzieherin fügte sich freilich in ein ebenso prüdes als auch kriminelles Umfeld. Andernfalls wäre nicht möglich gewesen, was ich im Waisenhaus noch erlebte und beobachten konnte. Da war zum Beispiel ein Rummelsberger Bruder, der mich mit ungefähr acht Jahren in einen Raum im Souterrain des Lehrlingsheimes verschleppte, mich fesselte und einen Nachmittag lang betatschte und kitzelte. Gewieft durch die Erfahrung in der Spatzengruppe hielt ich danach den Mund, um nicht geprügelt zu werden. Ich sah aber auch die Tante Helga, die sich an einen pubertierenden Jungen verging. Er war Bettnässer und hatte bereits Haare dort unten. Tante Helga wusch ihn; und besonders gründlich wusch sie ihn da unten. Ich dachte, sie tat es, weil er nach Pipi roch, wenn er nachts ins Bett gemacht hatte. Sie wusch ihn als sie mit ihm alleine war. Ich sah es zufällig, als ich nochmal zurück in den Schlafsaal kam.

Die evangelisch spießige Atmosphäre unter den Erwachsenen im Waisenhaus festigte also das Tabu und Mokita und ermöglichte somit erst recht Kindesmissbrauch. Von gleichwertigen Beobachtungen erzählten mir später im Erwachsenenalter meine beiden Brüder. Die Gelegenheit machte offensichtlich aus einigen Tanten Diebe respektive Kinderschänderinnen. Ein Tatbestand, der heute noch für die meisten Leute unvorstellbar, weil sexueller Missbrauch durch Frauen derart tabuisiert wird; um wieviel unmöglicher war damals die Vorstellung eine Rummelsberger Schwester könne einen Buben betatschen und sexuell stimulieren. Deswegen hatte auch Tante Helga kein Problem damit, den Jungen ihrer Wahl wie selbstverständlich zu entkleiden und ihn „waschend“ abzugreifen. Es war die übliche weibliche Fürsorglichkeit gegenüber Kindern, die auch hier eher denjenigen, der Schlimmes dabei denkt, statt die Täterinnen desavouiert.

War es im Heim noch spießige Prüderie, die den Kindesmissbrauch ermöglichte, indem man das Offensichtliche übersah, so ist es gesellschaftlich gesehen, die ganz normale Spießigkeit, die Kindesmissbrauch zulässt. Ein Merkmal des Spießertums ist, sich einerseits gesetzestreu zu verhalten, jedoch dort, wo es keiner sieht, die Regeln des Zusammenlebens zu ignorieren. Eine der üblichen Sünden der Spießer ist die Steuerverkürzung. Gleichzeitig schimpft derselbe Spießer über die anderen Steuerhinterzieher. Gleiches geschieht bei der Leistungserschleichung, da werden ungerechtfertigter Weise Subventionen abgerufen, aber der schwarzarbeitende Sozialhilfebezieher denunziert. Der Spießer hat Dreck am Stecken, sieht aber den Schmutzfleck nur an den anderen Spazierstöcken. Korrupt sind immer nur die anderen! Er stiehlt, sobald ihn keiner dabei sehen kann; er beschuldigt falsch, solange es ihm zum Vorteil gereicht; er entsorgt seinen Giftmüll in der Natur, um sich ein paar Euro so sparen; er fährt wie eine Sau; lügt im Zeugenstand; schwindelt bei der Hausratsversicherung; ja, er nützt jede Gelegenheit, um sich einen billigen Vorteil zu verschaffen. Hinterhältigkeit ist sein Wesenszug; so agiert er aus der anonymen Deckung heraus, beleidigt via Internet und lacht sich  ins Fäustchen, falls sein Nachbar dabei erwischt wird. Bei alledem aber sieht er sich von anderen Spießern übervorteilt und umstellt und prangert deren Lässlichkeiten an. Zudem hat er kein Problem mit seiner kognitiven Dissonanz, ja er reflektiert sie nicht einmal, da er sie nicht bemerkt; dieserart alltäglicher Widerspruch ist ihm eigen.

Auch die großen gesellschaftlichen Vorbilder entpuppen sich allemal als Spießer. Uli Hoeneß, Anton Hofreiter, Alice Schwarzer, Wolfgang Schäuble u.v.m., sie alle wurden erwischt und sie alle waren wie die anderen Spießer auch um faule Ausreden nicht verlegen.

Seine Charakterlosigkeit macht den Spießer andererseits zum Duckmäuser, denn er fürchtet, dass seine Vergehen auffliegen und seinen guten Ruf beschädigen könnten. Also passt er sich an, zieht die Rollos herunter, versteckt sich hinter Buchsbaum- und Thujahecken und empört sich über fremde Kinderschänder, während er seine eigenen Kinder misshandelt und missbraucht. Der Vater von mir war ein solcher Mistkerl. Er betrog die Steuer, stahl dem Nachbarn die Blumen aus dem Garten, randalierte betrunken und er missbrauchte und misshandelte seine Kinder. Doch er war gesellschaftlich bis über seinen Tod hinaus eine angesehene Persönlichkeit, an die sich viele noch ehrfürchtig erinnerten. Ja, die meisten Kinderschänder sind gesellschaftlich achtbare Persönlichkeiten, man denke nur an die Verbrecher in den Reihen der Kirchen.

Ein Merkmal der Spießer ist, dass sie sich an die Volksweisheit: „Gehe nicht zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst“, halten. Sie zeigen den Nachbarn nur dann eines Vergehens an, sofern es ihnen nützt. Ansonsten halten sie sich bedeckt und mimen die drei Affen: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Das bedeutet, ein Spießer mischt sich nicht ein; und wenn er Missbrauch sieht, übersieht er ihn. Nur nicht auffallen, nur nicht aus dem Glied treten: „Üb immer Treu und Redlichkeit …“, das ist seine Maxime. Er tritt erst aus der Deckung, wenn auch ein zweiter oder dritter die gleiche Schändlichkeit bemerkt und man sich gegenseitig Mut zuspricht, etwas dagegen zu unternehmen. Dann verkneift er seine Furcht und wirft sich zaghaft in die Brust.

Hört der Spießer dann von Kindesmissbrauch, ist seine Empörung umso lauter, je weiter das Verbrechen entfernt ist. Da fordert man auch mal locker die Todesstrafe für Kinderschänder und reiht sich bei den Nazis ein. Je näher das Verbrechen aber rückt, umso verdruckter wird sein Aufschrei. Geschieht das Verbrechen gar vor seiner Nase und ahnt er, dass hier die Mutter, der Vater in der Nachbarschaft übergriffig sind, verlässt ihn rasch der Mut. Denn er exponiert sich mit einer Anzeige, muss eventuell dafür gerade stehen, wo er doch selbst andere Leichen im Keller hat, die man entdecken könnte. Womöglich nicht sofort, aber wer weiß, wer sein Feind ist, der ihn hinhängen wird, sobald er andere denunziert. Der Steuerhinterzieher und der Kleinkriminelle im Spießer werden es sich gut überlegen, den Kollegen, der Kinderpornografie auf seinem Computer sammelt, anzuzeigen. Da tritt man lieber nicht ins Licht und redet klein, was erkennbar ein Verbrechen ist. Das ist nicht nur beim Kindesmissbrauch so; da hackt die eine Krähe der anderen kein Auge aus.

Als einst die Nazis begannen, unbescholtene Bürger zu schikanieren, verstummten die Spießer hierzulande schnell. Kaum einer tat noch seinen Mund auf und protestierte gegen die Behandlung seiner Mitbürger. Feige duckte man sich weg, hatte man doch selbst Dreck am Stecken. Und so ließ man dem Verbrechen seinen Lauf. Auch heute kann man dieses Verhalten beobachten. Da raunt ein ganzes Dorf von den möglichen Verbrechen, die ein Vater seinen Töchtern antut, doch niemand wagt es, das Hörensagen anzuzeigen. Da weiß man im nächsten Dorf, dass die Musiklehrerin ihre Zöglinge vernascht und wischt es lieber mit zotigen Bemerkungen beiseite, als einen Brief an die Staatsanwaltschaft zu schreiben. Kindesmissbrauch und Missbrauch schutzbefohlener Minderjähriger ist Alltag. 12.000 Fälle werden Jahr für Jahr in Deutschland angezeigt. Die Dunkelziffer beträgt ein vielfaches davon. Es geschieht also so gut wie in jeder Nachbarschaft; doch es bleibt unter der Decke, weil niemand es wagt, hinzuschauen und die Konsequenz aus seiner Entdeckung zu ziehen.

So funktioniert das Spießertum. Es macht gleich: gleich stumm, gleich blind, gleich taub, gegenüber jeder Gemeinheit, denn es nährt sich selbst aus der Niedertracht. Dass dabei unsere Mitmenschen körperlich und seelisch Schaden nehmen, ist der Preis. Dass dabei auch die eigene Menschlichkeit perdu geht, nimmt man gleichfalls in kauf, schließlich merkt man es nicht, wie die eigene Seele verrottet. Ja, so funktioniert gesellschaftliche Korruption. Sie ist eine Pest, und sie verbreitet sich wie eine Seuche. Der Impfstoff dagegen sind Zivilcourage und Lauterkeit und sie sind leider auch sehr trügerisch; denn es gibt keinen Spießer, der sich eine dieser beiden Eigenschaften absprechen würde.

Diese Selbsttäuschung, dieses Selbstversagen nähren zugleich die kräftigsten Strukturen des Missbrauchs. Spießertum und Korruption wirken am meisten in der Nachbarschaft, in der alltäglichen Umgebung, dort wo Vor- und Nachteile schnell zur Geltung kommen, wo sich alle Hände noch so nahe sind, dass sie einander waschen können. Deswegen bleibt dieses Versagen so unsichtbar. Im größeren Rahmen aber, wenn wir beispielsweise die Nähe von Staat und Kirchen betrachten, erkennen wir, wie verflochten diese beiden Autoritäten sind und wie sie auf dem Rücken der missbrauchten Kinder und der Überlebenden von Kindesmissbrauch ihren Ausgleich suchen. Es ist erbärmlich und eine Schande für jede staatliche Autorität, dass Überlebende wie ich, ungehört auf das Justizversagen in dieser Angelegenheit verweisen. Die MHG-Studie weist 1670 Kleriker als Missbrauchstäter auf, verurteilt wurden von ihnen – meiner Schätzung nach – kein Dutzend. Das ist skandalös. Es ist und bleibt ein nicht hinnehmbarer Skandal. Nicht nur die Kirche steht hier in der Pflicht Abbitte und Sühne zu leisten, sondern auch der Staat. Doch nichts dergleichen geschah bislang. Das ist bitter; womit ich wieder bei der allgegenwärtigen Verachtung gegenüber den Opfern und Überlebenden sexualisierter Gewalt in ihrer Kindheit bin.

Ja, der Spießer verachtet die Opfer seiner Spießigkeit; er verachtet alle, die er geschädigt und geschändet hat. Ich bloggte hier darüber.

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