12. Jahrestag – Muttertod

Heute, am 1. August vor zwölf Jahren erfuhr ich, dass die Mutter von mir, die mich vom sechsten bis zum 16. Lebensjahr sexuell missbraucht hatte, gestorben war. Sie war schon fünf Tage tot, bis mich ein Bruder anrief und mir ihren Tod beiläufig mitteilte. Sie starb an Miserere. Ein schrecklicher, eher seltener Tod. Doch er ereilt wenn gute wie schlechte Menschen gleichermaßen. Die Mutter von mir war ein schlechter Mensch. Nachdem ich die Nachricht erhielt, schrieb ich die nachstehenden Zeilen in ein Forum, in dem sich andere durch Frauen missbrauchte Überlebende austauschten. – Das Forum gibt es nicht mehr.

Ein Uhr früh. Soeben habe ich von meinem Bruder erfahren, dass unsere Mutter am Mittwoch früh verstorben ist. Er fragte mich, ob ich zur Beerdigung kommen würde, und ich sagte ihm, dass ich das schon vor längerer Zeit entschieden hatte, nicht zu tun.

Es spukte hier die letzten Tage, gestern hatten wir deswegen geräuchert, jetzt weiß ich was wohl der Anlass dafür war. Ich hab’s nicht so gern mit Geistern …

Morgen mittag habe ich ein Gespräch mit einer Traumaklinik; auch hier geht es im Grunde darum, die Geister in anderer Form zu bannen …

Jedenfalls bin ich von der Nachricht nicht sonderlich berührt; und bitte postet mir keine Beileidsbekundungen, denn ich habe kein Leid an ihrem Tod. Eine Täterin ist gestorben, auch wenn sie wahrscheinlich einst selbst auch ein Opfer gewesen war; doch sie war eines jener Opfer, die sich irgendwann dazu entscheiden, selbst Täter zu werden …

Mein Bruder fragte mich, ob ich denn etwas gutes über die Mutter sagen könnte, ihm fiele dazu nichts ein. Mir auch nicht, ich weiß nichts gutes von ihr zu berichten. Allenfalls die Verzweiflung, mit der sie mich zu lieben versuchte …, aber das war nur Elend, krankes Elend. Mehr fällt mir nicht ein.“

Wenige Tage nach dieser Nachricht schrieb ich einen Brief zum Muttertod an das Alter Ego innerhalb meiner Person; denn eine Folge meines jahrelangen Missbrauchs sind Depersonalisation und Derealisation. Diese Persönlichkeitsstörungen sind seit zwei Jahren Gegenstand meiner vierten Traumatherapie, die ich mit meiner ersten Therapeutin durchführe. Ich habe diesen Brief am 15. April 2016 in diesem Blog gebloggt (Link hier).

Eine Floskel oder Klugelei zum Schluss erspare ich mir. Die Mutter war eine Verbrecherin und ich war ihr Opfer. Ihr Verbrechen prägte mich und bleibt der dunkle Bordun in meinem Leben, an dem sich meine Lebensweise entlanghangelt. Ja, ich denke ich habe meine Weise gefunden, die es mir erlaubt, mich unabhängig vom Halteton des Schreckens zu entfalten. Damit habe ich mich weitgehend aus dem traumatischen Teufelskreis gelöst; jedenfalls wurden meine Albträume weniger und meine Stimmung insgesamt heller. – Mit 72 Jahren ist das durchaus beachtlich …

2 Gedanken zu “12. Jahrestag – Muttertod

  1. „Der Halteton des Schreckens“ – wie es das trifft! Und wieviele Menschen bringen unglaublich viel Energie auf, um ihn zu überhören, statt sich den Ursachen zu stellen? Bleiben Gejagte? Auch um schlechte Eltern weiter idealsieren zu können, nicht um die nie bekommene Liebe trauern zu müssen?
    Glückwunsch, dass Sie andere Wege gehen, die in die Freiheit führen.

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    • Ja, man muss den Bordun erst einmal bemerken, um etwas tun zu können. Dass ich traumatisiert war, war eher eine akademische Erkenntnis, indem ich mir Missbrauch und Misshandlung zusammenzählte. Ich fand einen freien Beruf, um mein Geld zu verdienen; lebte zurückgezogen und hielt das ganz im blasierten Sinn für eine splendid Isolation. Es war letztlich das Zwangsouting durch meinen Namenswechsel mit 58 Jahren, das meine kPTBS auslöste. Ohne das wäre ich unbewusst für die Verheerung meiner Seele geblieben, eine etwas eigenartige Person, mit allnächtlichen Albträumen. Erst mit dem Ausbruch der PTBS vernahm ich den Ton des Schreckens, der meinen Seelenraum umschloss.

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