Selbstschöpfung, ein Weg aus der Depersonalisation?

Das Senyru im Bild:
Jedes siebte Kind
Brennt im Feuer des Missbrauchs
Albtraum fürs Leben.

Komplett werden, ganz werden, heil werden, Ich werden, Selbst werden – es gibt viele Blickwinkel für die Überwindung meiner seit Kindesbeinen an bestehenden Depersonalisation. Die Aussichten sind meines Erachtens schlecht, doch andere vor allem meine Therapeutin und Er im Ich – also irgendwie Ich, von dem ich als Er oder der da spreche … also M.R. (meine Traumatherapeutin) meint, wäre da nicht ein Rest von Ich, wäre da auch kein Verlangen komplett zu werden … also glaube ich ihr um Meinerselbst (das ist das, was ich wäre, wenn ich komplett wäre) willen. Darum hier ein weiterer Bericht aus meiner Traumatherapie.

Nun also eine Rekonstruktion meiner Eindrücke von der letzten Therapiestunde. Zu Beginn rekapituliert M.R. eine Erkenntnis aus der letzten Stunde, in der es darum ging, mir einen Raum zu schaffen und diesen auch zu behaupten. Ich kann mich daran nicht in dieser Prägnanz erinnern, jetzt beim niederschreiben denke ich an die empfohlene Türstehermentalität, die ich mir aneignen sollte, um Zumutungen und Übergriffigkeiten abzuwehren. In anderer Weise wurde dieser zu behauptende Raum erneut zum Leitfaden unseres Gesprächs.

Weiter sprechen wir über Momente, die mir erlauben, das meine, mir eigene zu finden, also unter anderem etwa so elementare Dinge wie schmecken und riechen in der letzten Stunde. Ich bin dabei zunächst überfordert, weil ich mich dazu nicht orten kann; meins, man und Er treiben dazu im Unbestimmten. Ein Bild hilft mir, den Gedanken für mich zu verdeutlichen: Ein Auto – mein Auto – aus der Garage fahren. Es kommt aus dem dunklen, geschlossenen Raum in eine lichte Weite. Es wäre Selbstbefreiung. Doch jetzt sechs Tage später frage im mich wieder, was das Selbst wohl sein mag, das Befreiung erfährt. Es sind stets Augenblicke in denen Täuschung und Wirklichkeit einander verwischen.

Auf meiner spärlichen Notiz, die ich auf der Heimfahrt im überfüllten Zug zwischen Panik und Verschwinden schnell kritzelte, steht: „ein Jenseits des Traumas finden“. Tja, da wäre der Wagen tatsächlich aus der Garage gefahren worden.

Ich denke, dabei geht es weniger darum, ein solches Transreales zu finden, denn wie stets determiniert die Suche das zu Findende, als vielmehr darum, offen für eine solche Transrealität zu sein, damit sie einem – damit sie mir begegnen kann. Mag sein, dass sich meine Komplettierung dadurch einzustellen vermag, schließlich ist es nicht allein Bereitschaft, denn mit der Bereitschaft folgt auch eine Hinwendung und Willigkeit Entwicklungen anzunehmen und Veränderungen zuzulassen. Letzteres ist kein passiver Prozess, sondern konzentrierte höchst lebendige Aktivität. ‑ Mal sehen, was jenseits des Traumas ist … ich bin jedenfalls bereit, es zu erkunden, indem ich es auf mich zukommen lasse und mich gleichzeitig ins Unbekannte bewege. – Diese Gedanken gingen auch in die Richtung des inneren Kindes, eine Metapher die M.R. gerne aufgreift, mit der ich allerdings wenig anfangen kann, obgleich ich ahne, was sie meint. Im Januar reflektierte ich bereits darüber. Diesmal fällt mir dazu ein, es als Empathie für mich selbst zu begreifen. Und in der Tat es ist ein warmes Gefühl. mich darauf einzulassen.

Ein Aspekt bleibt hängen, nämlich der der Selbstfürsorge. M.R. mahnt mich, dass ich mir Rückzugräume einrichte, in denen ich zur Ruhe komme und mich ohne Furcht bewegen kann. Es geht um Stressreduktion und sie rennt damit offene Türen ein, denn das haben wir – Dagmar und ich – von Anfang unserer Sauberkeit an gelernt. Unser daheim ist unsere Burg, und wenn wir sie verlassen, ist unsere Kleidung unsere Rüstung. Hierdurch nötigen wir Respekt ab und sind vor Übergriffen gefeit. Gleichwohl weiß ich, dass die PTBS vor keiner Türe oder Sakko halt macht, sobald der richtige Trigger ausgelöst wird. Doch auch hier habe ich dazugelernt und komme, wenn es der Fall ist, rasch wieder auf den Boden zurück. Nebenbei fällt mir auf, dass die Intrusionen erheblich abgenommen haben. Gut. dafür bin ich wiederum phasenweise dissoziiert, verschwinde in irgendwelchen wattierten Räumen. Überwiegend geschieht das im öffentlichen Raum, den ich als immer bedrohlicher empfinde, obgleich man mir rücksichtsvoll und mit gebotener Achtung begegnet. Das wiederum zwingt mich wiederum aus meinem Kokon nach außen. M.R. meint dazu, was ein schöner Falter werden will, muss seinen Kokon verlassen; ein Bild, das mir zusagt. Es sind gewissermaßen die Entwicklungslinien der Selbstfürsorge, die ich für mich finden muss, um von ihnen geleitet zu werden.

Dann kam ich auf die drei Senryū zu sprechen, die ich bei der Herfahrt dichtete, und die den Therapiebeginn vor zwölf Jahren fokussieren. Der Therapiebeginn hängt eng mit dem Tod der Mutter zusammen, denn an dem Tag, als ich nach Mitternacht die Nachricht vom Tod der Mutter erhielt, war gegen Mittag beim MPI meine erste probatorische Stunde zur Traumatherapie, die schließlich am 28. Oktober mit M.R. im AVM-Institut begann.

Vor zwölf Jahren starb
Die Frau, die mich missbrauchte.
Es war die Mutter.

An dem Tag begann
Meine Traumatherapie
Mit feuchten Augen.

Der Missbrauch begann
Als ich fünf Jahre alt war.
Ich rieche sie noch.

Selbst aus den schlimmsten Geschehnissen entwickelt sich Kunst. Es ist ein schöpferischer Prozess der Bewältigung und Aufarbeitung, ein Zwang seine Sprache, seinen Ausdruck wiederzufinden, eben ein Überlebenszeichen zu setzen, sich selbst nach all der erlittenen Gewalt und Demütigung für sich zu zeigen, um heilen zu können ‑ Wiedergeburt durch Selbstschöpfung. Es ist eben in diesem Sinne auch für mich ein Bemühen, komplett zu werden, meine Depersonalisation und Ich-Dystonie zu überwinden. Andere schreien vor Schmerz, ich hingegen male, zeichne und schreibe.

Also blicke ich auf den Lichtfleck, der sich auf dem weißen Teppich im linken oberen Karree zeigt und sinniere (wie ebenfalls im Januar geschehen) über die Holocaustopfer, die sich im Alter das Leben nahmen, als sie das Jahre davor erlittene Trauma als Posttrauma wieder einholte. Und ich erinnere mich erneut an den Überlebensvertrag, den ich mit M.R. während der ersten Therapie schloss, als meine Suizidgedanken eine gefährliche Intensität erreichten und ich mich davor fürchtete, zu springen, sobald eine U-Bahn einfuhr. Nein, ich will im Kampf für ein besseres Überleben Meinerselbst nicht überdrüssig werden. Nein, ich will und werde nicht aufgeben.

M.R. meinte später, dass in diesem Moment sichtlich ein Licht in meinem Herzen aufflammte, das mich beschien. Ein schönes Bild und eine beachtliche Wahrnehmung. Ja, ich spüre etwas von seiner Wärme, einer inneren Wärme, die mich belebt und mir wiederum ein Eigenes hinzu rückt; auch das ist Empathie mir gegenüber.

Seelenheil ist ein langsamer Prozess; eben eine Entwicklung, die meist still einhergeht, wie bei einem kleinen Kind, das sich ins Leben lernt und dabei seine Anlagen entfaltet, um ganz, ein ganzer Mensch zu werden. Therapie als Wiedergeburt – obgleich wieder, würde ich da nicht sagen, besser ist es von einem Werden, einem Selbstwerden, oder wie zuvor von Selbstschöpfung zu sprechen.

In diesem Zusammenhang reflektiere ich auch über Psychosomatik; denn die Ergebnisse der erfolgten Magen-Darmspiegelung waren positiv, seit der letzten Untersuchung sind Magen und Speiseröhre frei von Entzündungen. Ja, das sind harte Fakten für eine erfolgreiche Psychotherapie. Das Psychosoma ganzheitlich heilen; denn zugleich habe ich neben Psychotherapie täglich einen Teelöffel Hagebuttenpulver in meinen Joghurt gerührt und konnte damit auch meine Prostatitis erfolgreich heilen.

So komme ich schließlich auf meine drei Geschwister zu sprechen, die als Kinder ebenfalls durch die Hölle gingen. Von ihnen suchte keins psychotherapeutische Hilfe, dementsprechend „ver-rückt“ sind sie auch. Wobei ich mich von diesem Irresein nicht ausnehme. Ich bin nicht weniger verrückt als sie. M.R. korrigiert insoweit, als dass ich im Gegensatz zu den Geschwistern um meinen Irrsinn wüsste, womit ich erkennbar ein ganzes Stück gesünder sei.

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