Meine Schuld (1)

Schuld_1Vor ziemlich genau vier Jahren war das Thema Schuld in meiner Traumtherapie zentral. Schuld ist ein zentrales Thema aller Traumatherapien. Das Opfer fühlt sich schuldig. Das geschieht selbst dem Opfer eines unverschuldeten Unfalles, dass es sich schuldig fühlt, überlebt zu haben, während andere ihr Leben ließen. Schlimmer noch ergeht es den Opfern sexueller Gewalt, denn ihr Körper funktioniert auf die sexuelle Bedrängung. Dieses Funktionieren aber wird zum Nucleus, um den sich ein ebenso irreales, wie selbstvernichtendes Schuldgefühl gruppiert. Viele Opfer nahmen sich letztlich deswegen das Leben. Ein gleichfalls als Jugendlicher geschändeter Freund, umschrieb das Schuldgefühl treffend mit dem Satz: Mein Körper hatte mich verraten! Für mich war dieses Schuldgefühl mit ursächlich, warum ich den erlittenen Missbrauch Jahrzehnte verschwiegen hatte; ich hatte Panik davor, deswegen bezichtigt werden zu können.

In einem längeren therapeutischen Prozess gelang es, meinen dahingehenden Schuldkomplex so weit aufzulösen, dass ich mich nur noch selten und wenn, nur kurzfristig, ob der erlittenen Schändung schämen muss. – Ich werde über die geschehene Entwicklung in mehreren Abschnitten aus meinem Therapietagebuch berichten.

16. 3. 2012
Von der Therapie zurück schlafe ich zwei Stunden und gehe dann zum Schwimmen, um wieder zu mir zu kommen. Zwischendurch, am Heimweg durch den Englischen Garten, plagt mich der Weltekel, ob all der entblößten Leiber. Beim Dallmayr bin ich sehr weit weg, verharre versunken in Trübsal und Trauer verwirkt. Dabei hatte ich mich noch gut im Griff, als ich die Stunde verließ – meinte ich. Doch was wir im Therapiegespräch umrundet hatten, drückte danach doch heftig durch. – Jetzt erinnere ich nur noch bruchstückweise, und ich versuche, zu rekonstruieren.

Erst sprach ich in der Stunde über die bedrückende Besetzung in meinem Kopf, wie sich Düsternis als ein bedrohliches und besetzendes Empfinden meiner bemächtigt. Wie schwer ich daraus finde, wie das Herauslösen mehr einem Entschwinden als einem Abstandnehmen gleicht. Wie häufig mich Signale in der Öffentlichkeit reizen und schlimme Assoziationsketten auslösen, die letztlich wieder in düsterem Empfinden enden: im dumpfen Brüten über Miasmen, die dem Abgrund entsteigen.

Dann kam ich auf das Thema, seine Krankheit anzunehmen, zu sprechen, das wir am Mittwoch zuvor in der Suchtselbsthilfegruppe behandelt hatten. Wie schwer mir dieser Schritt jetzt fällt, wo ich erkenne, dass ich mit meiner aktuellen Erkrankung erneut vor dieser Aufgabe stehe. Wie ich mich davor drücken möchte, erneut eine Last aufgebürdet zu bekommen, wie ich die Belastung vielmehr wegwischen, ja ungeschehen machen möchte. Dann die Frage von M.R., was mich hindere, die Deformation aus dem Geschehen als Krankheit anzunehmen. Es traf mich unvermittelt mit ganzer Wucht, dieses Empfinden von Schuld, von Teilhabe …

Mich zu erinnern, darüber zu schreiben belastet mich. Es ist Samstagmorgen geworden, und wieder macht sich der Hustenreiz bemerkbar, und der Hang, mich abzulenken, ist übermächtig. Schon bin ich auf der Flucht, diszipliniere mich und wende mich zurück, nähere mich im Nonnenschritt …

Das Schuldempfinden war eine körperlich wahrnehmbare grauweiße Wolke, die mich beinahe aus dem Stuhl warf. Ja, diese Macht hindert mich – gewiss – womöglich ‑ unter anderem ‑, anzunehmen; M.R. sprach von Kapitulation. Ich habe Schwierigkeiten, dies einzuordnen; finde keinen Zugang dazu: gegenüber was ich kapitulieren sollte? – Gegenüber dem Geschehen, seine Folgen, oder gar gegenüber meinem Schuldempfinden? Wohl deshalb mein, schon im Vorfeld der Therapie, gegenüber drei Therapeuten geäußerter Wunsch nach Vergebung …

Die Nacht zum Sonntag hat begonnen, ich versuche, fortzuschreiben. Inzwischen entstanden eine Lammkeule mit Linsen und eine Nusstorte, dabei lernte ich, Karamell herzustellen. Schuld kommt aus vielen Ecken. Massiv war das Anwehen in der gestrigen Stunde, weil ich während der Untat sexuell funktioniert hatte. Differenziert in der Nachbetrachtung ebenso das Funktionieren bei der Schwägerin; diesen Ekelakten, bei denen ich mich seelisch immer wieder mit Dreck bewerfen konnte. Hinsichtlich des Vaters, weil ich mich nicht gegen ihn wehrte; weil ich ihm Saufkumpan wurde; weil ich ihm nicht in den Arm fiel, als ich ahnte, was er mit der Schwester tat; weil ich dem gegenüber schon so verroht war, dass ich es gar nicht mehr in seiner Entsetzlichkeit empfinden konnte; weil ich meine Schwester nicht beschützen konnte ‑ dies ein Punkt, der mich mit der Entwicklung der PTBS immer wieder trauern lässt. Dazu die weiteren Momente des Kuschens und Versagens gegenüber den Schwiegereltern, dem irren Bruder und so weiter und so fort …

Das sind jetzt Daten, die ich nach über 12stündigem kreißen niederschreiben konnte. Betrachte ich den Vorgang, wird mir bang. Ob ich ihn je lösen kann? Zu komplex, zu verwirkt, erscheint mir alles. Immer wieder erscheint mir auch das Bild, als ich der Mutter, Monate nach dem Geschehen, in meinem Zimmer am Tisch gegenüber saß, und mit ihr eine Flasche Pernod leerte. Sie, im Unterrock, hätte es da wohl wieder getan, wenn der Vater nicht im Zimmer nebenan schrieb und irgendwann eifersüchtig blaffte, weil er an der Sauferei nicht beteiligt worden war. – Nein, ich muss nicht kommentieren, wie krank das ganze war. Es war noch kränker, als jeder Kommentar darüber.

Am Freitag, als mich während der Stunde dieses Gespinst aus Schuldgefühlen so unvermittelt ansprang, brachte ich nicht einmal das Wort „Schuld“ über die Lippen. Als M.R. die Ursache für dieses Empfinden näher untersuchen wollte, musste ich abbrechen, um nicht zu verschwinden. Dabei gab es Tage, wo ich darüber sprechen konnte; doch es war dann für gewöhnlich ein eher akademisches Sprechen, nie war mir das Empfinden so nahe, wie dieses Mal. Dies halte ich wiederum für ein konstruktives Leiden, ein „heilsames“ Leiden, weil ich es als teleologisch empfinde; im Gegensatz zum vorbemerkten Brüten, das destruktiv und verschlingend ist und ein leiden am Leiden zeitigt.

Da war noch ein anderer Gedanke: der Wunsch, die Kausalität der Schrecklichkeit zu verstehen, das unheile Leben der Eltern zu verstehen. Ein Gedanke, der mich immer wieder angeht. Traumatisiert waren beide allein sicher durch die Kriegsereignisse; er als „Halbjude“ gewiss mehr als sie. Bei ihr vermute ich Schlimmes in der Familie, weil sie zu ihren vielen Geschwistern bis auf einen Bruder gar keinen Kontakt hatte. Doch das ist spekulative Hinterhofpsychologie, weil sie Lust auf mich hatte, muss sie kein Opfer gewesen sein. Jedenfalls ist die Überlegung, dass sie mich irgendwann weit, weit vorher zu ihrem Gespielen phantasierte, eine Gedankenschleife die mein Brüten nährt. Jedenfalls, was ich heute erinnere, lag ihrer Tat ein planvolles Vorgehen ihrerseits nahe.

Schluss. Das führt nur in die Nacht. Genau so beginnt das Brüten, der Absturz in die Dämmerung dumpfen Empfindens. Eine Spekulation, eine Interpretation von Erinnerung, ein Zweifeln an meinem augenblicklichen Leid, und die Türe zum Schattenreich geht auf, und die Zombies erwachen. Die Quaddeln blühen …

Ehe ich aufhöre, stelle ich mir noch die rhetorische Frage: Warum haben wir so viele Freunde, die von Tätern berührt wurden? Die Antwort scheint klar, wir Überlebende erkennen uns unbewusst an den Zeichen, die wir senden; wir spüren das Leid des anderen und empfinden Mitleid. Es scheint wohl das homöopathische Simile-Prinzip zu sein, indem sich Gleiches am Gleichen kuriert – allerdings basiert dieses Prinzip bekanntlich auf einem Irrtum Hahnemanns.

2 Gedanken zu “Meine Schuld (1)

  1. Ich habe heute beim Autofahren (ein Ort, an dem mir oft plötzlich Sätze einfallen, die eine erweiterten Betrachtung verdienen) eher beiläufig über Schuldgefühle nachgedacht – Schuld als Gegenpart zu der Ohnmacht – der Faktor, mit dem man eben doch vielleicht Einfluss hatte … diese beschissene Warum-Frage, die man nicht beantworten kann … Meistens fühle ich mich schuldig, weil ich „zu schwach“ war (auch das trotzdem funktionieren des Körpers – das hast du sehr (kann man das so sagen?) „schön“ ausgedrückt ). Es gibt für mich kaum ein beängistenderen Gedanken, als den, dass mich andere für „schwach“ halten, und deswegen habe ich mich fast zu Tode gearbeitet, um mich nicht „schwach“ zu fühlen … und 15 Jahre fast vollkommen sozial zurückgezogen, in 26 Jahren sah mich genau ein Mensch einmal weinen. Aber heute kam mir genau da der Gedanke, dass ich vielleicht „zu schwach“ war, es zu verhindern – aber dass da in Wahrheit noch eine „zweite Schuld“ dran hängt – als Antwort auf die Frage nach dem Warum. Haben sie es getan, weil sie mich für schwach hielten ? Habe ich Angst davor, dass es wieder passiert, wenn ich Schwäche zeige? hm …

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  2. Ohnmacht ist beschämend. Sie weist auf eigenes Versagen. Wehrlosigkeit zählt zum Versagen. Nicht umsonst ist es eine Methode in Kriegszeiten, die Frauen des Feindes zu vergewaltigen, um deren Männer zu beschämen. Ein Mann, der seine Frau nicht verteidigen kann, ist ein Feigling; zu feige, sein Leben für sie zu opfern. Wehrlosigkeit bedingt das Schuldgefühl für das Versagthaben. Es spielt dabei keine Rolle, dass es vernünftigerweise keine Möglichkeit, sich zu wehren, gegeben hatte. Vielfach wurden die Opfer eines sexuellen Missbrauchs auch über Jahre zur Unterwerfung konditioniert. – Deshalb hat die Stärkung des Selbstbewusstseins und Selbstbehauptung und des Mutes, Übergriffe sofort zu skandalisieren, Priorität, um Kinder und Jugendliche vor Missbrauch zu schützen.

    Hinzukommt, wenn du als Junge Sexualverkehr mit deiner Mutter hattest, du dir selbst die Schuld daran gibst, denn du meinst, du hast sie gefickt. Dass du gefickt wurdest, sich einzugestehen, wäre nur ein weiterer Akt der Beschämung. Und hier trägt dann der Vorwurf der Schuld, denn du konntest nur geschändet werden, weil du dich nicht gewehrt hast. Versagen ist somit selbstverursachte Beschämung und Schuld. Der Täter ist nur das Objekt, an dem du scheiterst. Er konnte nur böse sein, weil du ihn ließt.

    Ja, all das sind mir und wohl jedem Opfer bekannte Gemütszustände. Und dass Täter ihre Opfer auch wittern, das heißt ihre Schwäche und Wehrlosigkeit instinktiv erkennen, ist eine Tatsache. Auch aufgesetzte Härte und Wehrhaftigkeit wird von ihnen sofort erkannt. Dahingehend meine ich auch, ja sie haben es mit Dir gemacht, weil sie Dich für angreifbar hielten. Täter werden zu Tätern, weil sie tun können, was sie wollen. Sexualverbrecher schildern, dass wenn sie es zur Wiedertat treibt, sie oft sehr lange (Monate) nach einem möglichen Opfer suchen, ehe sie zuschlagen.

    Ich habe mit 60 Jahren erstmals in meiner Therapie gelernt, dass ich Nein sagen kann und jederzeit darf. Was seinerseits auf die massive Zerstörung hinweist, der ich ausgesetzt war.

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