Strukturen des Missbrauchs am Beispiel männlicher Opferidentität

Two Hundred Yard View

Missbrauch zuhause. Missbrauch im Waisenhaus. Missbrauch durch Drogen. Missbrauch und Misshandlung über 30 Jahre. Erst Opfer, später Täter gegen sich selbst. So sieht der Beginn meiner Biografie aus. Später dann wurde ich clean, lebe seitdem ein inzwischen 38 Jahre währendes drogenfreies Leben, ohne Missbrauch, ohne Misshandlung, gelegentlich mit Übergriffen von Frauen, die ich allerdings abzuwehren gelernt habe. 30 Jahre war ich ein anerkanntes Mitglied dieser Gesellschaft. War (bin) ein erfolgreicher Künstler; war ebenso erfolgreich in Berufsverbänden tätig und in der Sucht-Selbsthilfe engagiert. Inzwischen bin ich ein zurückgezogenes Mitglied dieser Gesellschaft, denn seit zehn Jahren leide ich an einer „komplexen posttraumatischen Belastungsstörung“ (kPTBS) und bin seit sieben Jahren dauerhaft in Therapie, inzwischen arbeite ich mit der dritten Therapeutin. Mir geht es nicht gut, doch erheblich besser, als am Anfang meiner Therapien; und ich bin entschlossen, meine Opferidentität aufzugeben. Eine Identität, von der ich über 30 Jahre nicht dachte, dass sie mir mal zum Selbstverständnis werden könnte.

Eben weil ich wusste, dass ich ein Opfer bin, wollte ich nie Opfer sein, jedenfalls nicht erkennbar. Weil Opfer schwach sind, weil sie jammern, lamentieren und nerven, wo auch immer sie mit ihrer redundanten Geschichte auftauchen. Sie wollen Zuwendung, Streicheleinheiten, Fürsorge, wo andere ihre Sache in die eigene Hand nehmen. Opfer bekommen ihren Arsch nicht hoch und lassen sich gehen. Sie sumpfen in ihrem Leid und sind im Morast ihrer Vergangenheit steckengeblieben. Sie sind Warmduscher, Waschlappen und Weicheier, so mein Stereotyp von Opfern, das in seiner Eindimensionalität durchaus auch Wahrheiten folgt; denn Opfergeschichten sind in der Tat redundant, und Opfer sind in ihrer Vergangenheit verhaftet, zudem sind sie hochgradig verletzlich, und es besteht für sie allenthalben die latente Gefahr einer sekundären Viktimisierung.

Andererseits ist gerade dieses Stereotyp auch ein fest verankertes, gesellschaftliches Vorurteil, das seinerseits den Opfern den Mund verschließt und somit auch jeden therapeutischen Ansatz vereitelt. Insbesondere gilt das für männliche Opfer sexualisierter Gewalt und noch viel mehr für jene 60% unter ihnen, die durch Frauen und Mütter missbraucht wurden. Deren Geschichten will niemand hören, denn sie widersprechen einem weiteren Stereotyp, nämlich dem von der guten Mutter und empathischen Frau.

Allerdings war der Anstoß zum Ausbruch meiner späten kPTBS das erzwungene „Coming Out“ aufgrund der von mir beantragten Namensänderung. Damals musste ich die Grundzüge meiner Geschichte offenbaren, um einer für mich unerträglichen Situation zu entkommen. Dass ich dabei in eine andere schier unerträgliche Situation schlitterte, hätte ich nur ahnen können, sofern ich den Stimmen anderer Missbrauchsopfer geglaubt hätte, die mich warnten, dass eine solche Namensänderung durchaus problematisch werden könnte. Freilich gingen die Warnungen in eine andere Richtung, als sie sich mir letztlich stellte. Jedenfalls sah ich mich in der Folge in der Auseinandersetzung mit meiner kPTBS und meiner Mitwelt gezwungen, mein Opfersein auch meiner Mitwelt partiell zu offenbaren und ihr gegenüber auch zu verteidigen; schließlich war meine, sich durch die Belastungsstörung herausbildende Persönlichkeitsveränderungen unübersehbar, zum Beispiel meine Agoraphobie und Berührungsangst. Zum anderen fiel in diese Zeit auch eine randständige Diskussion „sozialer Nannys“, die meinten, der Begriff „Opfer“ sei politisch inkorrekt und für die Opfer diskriminierend, weshalb sie sich besser anders bezeichnen sollten. (Ich bloggte hierüber.)

Opfer mit Opferidentität tun sich scheinbar leichter

Mich meiner Mitwelt als Opfer von Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung mitzuteilen, erleichterte mir in der Tat einiges; vor allem konnte ich damit die ersten Schritte in mein Leben mit der kPTBS angehen, meine akute seelische Erkrankung annehmen und versuchen, meine neuen Seltsamkeiten zu leben; denn sobald ich den Grund hierfür: „Ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung nach sexuellem und sadistischen Missbrauch in Kindheit und Jugend durch die Eltern“, wie eine Litanei aufsagte, blieb jede weitere Nachfrage aus. Ja, ich muss gestehen, dass ich diesen Satz gelegentlich auch als Aggression gegen meine Mitwelt ausstieß, um mein Gegenüber vor den Kopf zu stoßen und mich hierdurch vor seinem Mitleid zu schützen, denn Mitleid empfand ich oft als seelische Übergriffigkeit, in deren Folge ich den körperlichen Übergriff akut befürchtete; schließlich will Mensch einen derart verletzten Mitmenschen am liebsten in den Arm nehmen und trösten. – Für mich der blanke Graus … Und die Litanei mit bösen Unterton gesprochen, versagte mir oft das gefürchtete Mitleid.

Daneben ist ein Opferdasein allerdings in seinem sozialen Kontext nicht unproblematisch, denn, ein Opfer zu sein, nobilitiert auch so manchen. Man findet durch die Skizze des Erlittenen Anerkennung und Beachtung. Die Schmach des Missbrauchs überlebt zu haben und fortan an einer PTBS zu leiden, gilt dann bereits als Leistung. Frauen wird dieser Kredit im Gegensatz zu Männern bereitwillig eingeräumt. Frau ist schwach, bedarf des Schutzes und der Fürsorge durch die Gemeinschaft. Männer gelten hingegen als stark, stehen auf eigenen Beinen und sind imstande, für sich selbst zu sorgen; hier gibt es kaum Kredit und Opfersein gilt nicht als Leistung, sondern eher als ein Zeichen der Schwäche. Mann konnte sich nicht selbst verteidigen. Zumal bei sexuellem Missbrauch durch eine Frau: Wie soll denn das gehen …? Eine Frage, die auch mir begegnete, und die nicht zwingend nur dumm ist, sondern sich von dem schablonenhaften Bild über Opfer, wie es in Medien und Film gezeichnet wird, herleitet. Hier begegnet Mann weit öfters und nachhaltiger der Unterstellung, die Frauen häufig monieren, man trage Mitschuld am erlittenen Missbrauch. Eine überaus dumme und perfide Unterstellung, denn am erlittenen Kindesmissbrauch trägt kein Kind – egal ob Junge oder Mädchen – ein Quentchen Schuld. Es ist Opfer, und immer nur Opfer!

Dieser spezielle Blick Fürsorgender und Mitleidender auf das Opfersein von Missbrauchsopfern ist vor allem ein politischer Blick, der von jenen Parteien gepflegt wird, die den einzelnen Menschen einzig aus ihrer Hybris heraus, Gerechte zu sein, die wissen, wie die Welt zu retten ist, fokussiert und betrachtet. Diese paternalistische Wahrnehmung der Opfer führt zu ihrer Entmündigung und Instrumentalisierung. Gerade Missbrauchsopfer konnten dies 2010, als die katholische Kirche am Pranger stand, erleben. Damals war es für die Grünen schier essentiell, die katholische Kirche zu denunzieren und skandalisieren, während die, nicht weniger skandalösen Machenschaften der evangelischen Kirche oder anderer Institutionen, darunter die der eigenen Partei, tunlichst unkommentiert blieben. Da zudem Männer in den Augen der Gerechten das privilegierte Geschlecht sind und in patriarchaler Herrlichkeit Frauen unterdrücken, können sie nur Täter sein, selbst dann wenn sie Opfer sind. Außer sie sind multipel divers, so wie ich: missbraucht durch Mutter und Vater, Waisenhäusler, polytoxer Süchtiger, jüdischer und polnischer Abstammung, Bildungsverlierer usf. Dann kann man selbst als Mann wieder unter die politischen Fittiche der Gerechten schlüpfen und sich mit deren Opferabo durchmogeln; sofern man das Maul hält und sich nach ihrem Gutdünken instrumentalisieren lässt; denn das mussten die Opfer, die sich 2010 zu Wort meldeten, zu mehr als 90% übrigens Männer, erst noch erfahren: nichts ist so flüchtig, wie das Interesse der Gerechten am Leid des anderen. Inzwischen sind andere und größere Opfergruppen immigriert und im Fokus der guten Menschen. Da gibt es auf Jahrzehnte hinaus zu tun und jede Menge Skandale, an denen man seine durch Gesinnung allein kreierte Gerechtfertigtkeit demonstrieren kann. Missbrauch ist kein Thema mehr. Dieses Opferabo wurde gekündigt. Etliche Opfer haben das freilich noch nicht begriffen, weswegen ihr Lamento zwar lauter wurde, jedoch kein politisches Ohr mehr erreicht.

Ein Mann als Opfer konterkariert den gutmenschlichen Opferbegriff

In der skizzierten Weise beeinflusst die Gesellschaft auch die Selbstwahrnehmung der Opfer und vermittelt ihnen einen Status, der mal beachtlich und mal diskriminierend ist. Dies durchdringt auch zwingend die eigene Haltung zur eigenen Geschichte und dem Erlittenen. So war es vor zwanzig Jahren fast ausschließlich Frauen möglich, ihren erlittenen Missbrauch öffentlich zu machen und anzuzeigen, während Männer keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde; obgleich es auch damals schon Berichte von sexuellem Missbrauch an Jungen gab, zum Beispiel von Opfern der Indianerkommune oder von Sexualwissenschaftlern, die die Täterschaft von Frauen in Missbrauchsfällen untersuchten. Es war jedenfalls nicht so, wie die heutige Mär von der sexuellen Befreiung der 68er, dass eben diese Befreiung nicht auch in großen Zügen gewalttätig war und keine Missbrauchsopfer hinterlassen hätte.

Ein beredtes Beispiel für den gesamtgesellschaftlichen Kontext bei der Wahrnehmung von Kindesmissbrauch ist der Bericht des Journalisten Jörg Schindler von 1999 über die päderastischen Verbrechen an der Odenwaldschule in der Frankfurter Rundschau. Sie interessierten damals niemanden. Erst zehn Jahre später 2010 wurde einem erneuten Artikel von ihm Beachtung geschenkt; denn zu dieser Zeit rückten erstmals Jungen als Opfer von Kindesmissbrauch in das Blickfeld der Medien. Wobei aber auch gesagt werden muss, dass die besondere Situation, dass etwas 95% der Opfer katholisch kirchlichen Missbrauchs Jungen waren, für sich gesehen in den Medien keine herausragende Beachtung fand. Überwiegend wurde dann von Kindern und Kindesmissbrauch berichtet, obgleich es Jungen und päderastische Verbrechen waren.

Ich selbst hörte 1962 erstmals von dem Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen. Es war ein Domspatz, der mir davon erzählte. Damals war ich elf Jahre alt und von einem älteren Jungen vergewaltigt worden. Das Thema war zumindest unter Jungen auch zu meiner Zeit virulent, doch kein Erwachsener wollte es aufgreifen, niemand hätte zugehört, welcher steten Gefahr wir als Kinder ausgesetzt waren. Derlei Umstände prägen auch heute noch das Selbstverständnis männlicher Oper, nämlich stets misstrauisch zu sein und zu bleiben. Opferschutz ist auch heute noch im wesentlichen Mädchenschutz. Dieser Umstand hegt einerseits eine klandestine Opferidentität, die vor allem deswegen belastend ist, weil sie wie ein Bordun – ein tragender Ton – das Leben des männlichen Opfers bestimmt. 28 Jahre dauert diese Abgeschiedenheit mit sich und den ungeteilten Erinnerungen an den erlittenen Missbrauch, bis sich ein als Junge missbrauchter Mann in eine Traumatherapie begibt (Quelle: SPON).

Der posttraumatisierte Mann ein gesellschaftlicher Un- und Wegfall

Andererseits erschwert dieser Umstand auch die gesellschaftliche Wahrnehmung des männlichen Opfers als Opfer. Wir kennen das Phänomen aus vergangenen Kriegen, als zigtausende von Männern mit einer chronischen PTBS vom Schlachtfeld nach Hause kamen und niemand sich für ihr seelisches Leid interessierte, denn niemand wollte zum kollektiven Trauma noch das viel schlimmere individuelle Trauma wahrhaben. Der einzelne zurückgekehrte Soldat stand somit in einer gesamtgesellschaftlichen – überwiegend weiblichen – Opferkonkurrenz und verlor als das schwächere, weil individuelle Glied in der Leidenskette. Das kollektive Trauma sollte nicht durch das individuelle Trauma diminuiert, konterkariert und somit relativiert werden. Hierdurch aber bleibt die klandestine Opferidentität des einzelnen erhalten und vereitelt eine Lösung aus den damit verknüpften seelischen Belastungen. Die Opfer, speziell die Männer, schweigen, wohlwissend, dass das die Rolle ist, die von Ihnen erwartet wird. Dieserart gesellschaftliche Zurückweisung bildet zugleich auch eine Struktur, die sexuellen Missbrauch insgesamt, und speziell den an Jungen begangenen, weiter ermöglicht.

Als ich junger Bursche war, war unser Salär knapp und deswegen schnorrten wir unser Bier, wo immer es ging. Eine Möglichkeit war, in Schänken einstige Wehrmachtssoldaten nach ihren Kriegserlebnissen auszufragen. Denn diese posttraumatisierten Männer waren froh, wenn sie für ein paar Halbe ein Ohr fanden, das ihnen für ihre belastenden Erlebnisse geliehen wurde. Abgebrüht wie wir waren, machte es uns auch wenig aus, wenn ihnen dabei die Tränen kamen und sie schluchzten, denn hierdurch entstand eine emotionale Bindung, die wir beim nächsten Kneipenbesuch wieder buchstäblich anzapfen konnten. Andererseits zeigt diese Episode auch, wie verlassen die Männer mit ihren seelischen Traumata waren, so dass sie sie im Grunde nur in Spelunken halbwüchsigen Schnorrern erzählen konnten.

Gleichzeitig zeigt die Episode auch in einer bitteren Weise, wie Gewaltopfer instrumentalisiert werden; schließlich lebt zumindest vom Leid der Frauen eine „Helferindustrie“ als ein eigenes und verzweigtes Gewerbe. Wobei es etlichen Professionellen nicht darum geht, ihrem Klientel dabei zu helfen, seine Opferidentität abzulegen, um sich aus dem Schrecken ihrer Vergangenheit zu lösen und im Heute ihres Lebens anzukommen. Opfer, die ihr Opfersein überleben und so zu präsenten Überlebenden werden, scheinen weniger erwünscht zu sein; denn sie haben etwas, was etlichen Helfern fehlt: Selbstverständnis und Selbstbewusstsein. – Eigenschaften, die Helfer dagegen lieber über ihr Helfersyndrom substituieren.

Doch für den in seiner Kindheit sexuell missbrauchten und misshandelten Mann gibt es bis heute kaum Möglichkeiten, wenigstens als einen ersten therapeutischen Schritt sein Leid zu berichten. Es gibt auch kaum einen Medienbericht, der sich monothematisch mit sexueller Gewalt gegenüber Jungen und Männern befasst. Wann immer darüber berichtet wird, hebt man auch auf den Missbrauch von Mädchen ab, um darauf zu verweisen, dass die Qualen der Mädchen weit häufiger geschehen und somit wohl auch schlimmer seien. – Als wenn 30% missbrauchte Jungen nicht genug Qual bedeuten würde.

So mögen es am Ende gar derlei miserable Umstände sein, die einen Mann dazu zwingen, seine Opferidentität abzustreifen; womit er letztlich durch seine gesellschaftliche Vernachlässigung gegenüber einer Frau sogar profitieren könnte. Denn für die Frau bleibt die Opferidentität mit all der Beachtung und Fürsorge dauerhaft attraktiv. Allerdings ist das wenn nicht eine zynische, so zumindest eine euphemistische Annahme. In Wahrheit gelingt es nämlich nur den wenigsten Männern ihre klandestine Opferidentität zu überleben. Die meisten sterben vorzeitig als Spätfolge ihres Missbrauchs durch Suizid, Drogenmissbrauch oder einer psychosomatisch bedingten Erkrankung aufgrund des permanenten Disstress, der mit ihrer kPTBS einherging.

5 Gedanken zu “Strukturen des Missbrauchs am Beispiel männlicher Opferidentität

  1. „Denn für die Frau bleibt die Opferidentität mit all der Beachtung und Fürsorge dauerhaft attraktiv. “
    Mein Lotusritter, das war nun wahrhaft nicht ritterlich….
    Auch für uns Frauen ist das Opfersein nicht attraktiv…im Gegenteil, das Schwachsein ist lange ein Teil der Erziehung von Mädchen gewesen, so dass es schwerfällt, diese Fessel abzustreifen.
    Deswegen werden Frauen auch eher wieder und wieder zu Opfern und sind seltener später auf der Täterseite wiederzufinden.

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