Depersonalisationsstörung in der Traumatherapie

Mit 57 Jahren holte mich der erlittene Kindesmissbrauch wieder ein. Er war zwar nie aus meinem Leben verschwunden, aber ich hatte mich mit mit seinen seelischen Folgen soweit arrangiert, dass ich mir einen Beruf wählte, bei dem ich allein von zu Hause aus arbeiten konnte. Zudem pflegte ich einen distinguierten Lebensstil, durch den ich mir eine Rüstung zulegte und Distanz zu anderen Leuten verschaffte. 2008 schwand der Abstand zu dem Erlittenen und ich erkrankte an einer kPTBS. Zu Beginn schien die Erkrankung noch erträglich, doch sie wurde von Woche zu Woche schlimmer. 2011 begann ich meine erste Traumatherapie. Damals war ich akut suizidgefährdet.

Eine PTBS ist kein Symptom, sondern ein Syndrom, dass entsprechend seiner Eigenheit eine Vielzahl von Symptomen in sich birgt. Depressionen, Angstzustände, Dissoziationen, Intrusionen sind nur die vordergründigen Symptome. Auch körperliche, psychogen bedingte Erkrankungen gehen mit einer PTBS einher. So leide ich an verschiedenen Hauterkrankungen, multiplen Entzündungen und einem Schwankschwindel, aufgrund dessen ich verschiedentlich mit argen Folgen stürzte.
Andererseits heilen einige Symptome aus, indem sie milder und somit weniger Leid bedingen, was die Lebensqualität insgesamt ein wenig hebt. So wurden meine Dissoziationen geringer, reduzierten sich aber noch nicht soweit, dass ich es wagen würde ein Auto zu lenken. Die Albträume verloren sich. Heute träume ich nicht mehr alltäglich sondern einmal wöchentlich alb. Ebenfalls verflüchtigten sich weitgehend meine Intrusionen. Sie peinigen mich nicht mehr bei jedem Trigger.

Interessant an den Linderungen ist, dass diese nicht wie von mir erwartet mit einem Pling verschwanden, sondern sich die Besserung allmählich einstellte. Es gibt in diesem Sinn keinen therapeutischen Kulminationspunkt. Vielmehr stellte ich irgendwann fest, dass das eine oder andere missliche Symptom seine Kraft verloren hatte. Verschwunden ist an sich keines, latent sind sie alle noch da, als lägen sie für den Fall der Fälle in einem Handlager bereit, nur ich habe inzwischen gelernt, wie ich die Tür dazu zuhalten kann; indem ich belastende Situationen meide. Zum Beispiel lese respektive sehe ich keine Berichte zum Thema mehr, die in voyeuristisch illustrierender Weise Leidensgeschichten mit transportieren.

In meiner vierten, derzeitigen Traumatherapie beschäftigen wir uns mit meiner Depersonalisation- und Realisationsstörung. Bereits in der dritten Therapie war sie unter anderem Thema. Mein damals akutes Problem war, dass ich kaum mehr in den Spiegel blicken konnte, weil mir mein Spiegelbild irreal vorkam und ich darüber zu Dissoziieren begann. Kognitiv wusste ich zwar, dass der Spiegel mich zeigte, doch empfand ich das nicht. Diese Entfremdung irritierte mich derart, dass ich es überhaupt vermied, mein Gesicht im Spiegel anzuschauen. Ich konzentrierte mich deshalb nur noch auf die Partie, die ich gerade behandelte, wie rasieren oder kämmen. Für die Therapeutin war diese Symptomatik ein Klaks; nach drei Sitzungen war die Störung minimiert. Heute ist für mich mein Spiegelbild etwas notwendig vorhandenes wie der Wasserhahn im Bad. Mit mir hat es zwar immer noch nichts zu tun, nur irritiert das mich nicht mehr.

Über den Verlauf der gegenwärtigen Traumatherapie berichtete ich hier verschiedentlich, weil ich den Eindruck gewann, dass ich dabei bin, einen Zugang zu Meinerselbst zu finden. In der letzten Therapiestunde hätte es beinahe Pling machen können, jedenfalls empfand ich mich mir selbst sehr nahe und beinahe Ich selbst. Doch da ich inzwischen weiß, es macht weder Pling, noch Plong oder Tusch, sondern wenn eine seelische Entwicklung angestoßen wurde, räkelt sich die erwachende Seele und ist irgendwann so frisch, als wäre es schon immer so gewesen.

Nachstehend meine Notiz zur mich und meine Seele bewegenden Stunde. Zu diesem Bericht entstand auch eine Aquarell, das erheblich von all den Schrei- und Furchtbildern abweicht, die ich zuvor gemalt hatte. – Nebenbei ein unverschlüsselter Verweis darauf, wie sehr unbewusste Wahrnehmung kreative Prozesse durchdringt. – In diesem Bild schreit der Lotosritter nicht mehr seine traumatische Not und Verzweiflung aus sich heraus, sondern scheint gesammelt und dabei, sich zu finden. Mal sehen ob sich für ihn die erhoffte Wandlung einstellt.

Die Weltlage temperiert meine Stimmung, der Wahnsinn poppt allenthalben auf wie Popcorn. In Mindelheim scheint es nur noch Fremde und keine Einheimischen mehr zu geben. Die Fahrt im überfüllten Zug ist Disstress. Angst vor der Stunde, Angst während der Stunde, Angst nach der Stunde. Bei dem Gedanken triggern meine Juck- und Kratzpunkte auf der Haut – eine andere Art der Akupunktur, eben Aku-Prurire. So meine Stimmung zu Beginn. Wobei ich hinsichtlich meiner Befindlichkeit konsequent von „Er“ spreche.

M.R. fragt mich, wie es sich anfühlt, wenn ich von mir mal als Er spreche und mal als Ich. Ich weiche der Antwort zunächst aus, indem ich meine, dass ich zu dieser Verschiedenheit kein Gefühl hätte, dafür aber meine augenblickliche Wahrnehmung von Er schildere. Er, der Schematische, der Mitwelt und Dinge sortiert, der den eigenen Wahnsinn als etwas Chaotisches erkennt, dass in sich allerdings sehr strukturiert ist. Ich denke an das Mandelbrot-Fraktal, eine Figur aus der Verbildlichung der Chaostheorie, nach der selbst das Chaos noch eine innere Ordnung besitzt, ohne die es als Chaos gar nicht wahrnehmbar sei. Dieser Gedanke beruhigt Meinerselbst und lässt mich das Er soweit annehmen, dass ich das Ich dazurücke. So habe ich mich ganz im Blick und fühle mich wohl dabei. Für den Moment gibt es kein Spannungsverhältnis zwischen Er und Ich; sie harmonieren zu meinerselbst.

So habe ich die Muse, dem nachzuempfinden und nehme den Raum wahr, der sich aus dieser Konstellation ergibt. Er und Ich stehen in Beziehung und bilden hierdurch einen Raum, der mir entspricht, der mich abbildet, mir selbst – Meinerselbst – Hort ist. In ihm, durch ihn und mit ihm bin ich zwar noch nicht Einheit, kein zentriertes Ich, noch Mittelpunkt meinerselbst, doch ich habe das Gefühl, anzukommen, mich zu finden, ja irgendwie bei mir zu sein. Das Wechselspiel beider Teile beschwingt Harmonie wie Dissonanz und formen einen Bordun, dessen eintöniger Klang nicht Eintönigkeit sondern Lebenshauch, Dynamik im Raum ist. Ich bin bewegt.

Meinerselbst erkennt, Er ist der schematische Part, jener Aspekt, in dem ich meinen Asperger verorten würde; während Ich der wilde, der ungezügelte Teil ist, der mich zugänglich macht und durch den ich auf andere zugehe. Zusammen wirken sie beide Teile wie Talent und Kreativität, Disziplin und Laissez faire.

Ich muss meine Hörgeräte verstellen, um einen angenehmeren Ton zu haben. Auf die Frage von M.R., wer da das Bedürfnis dazu hat, wer verstellt, weiß ich keine Antwort. Es ist weder Er noch Ich, es ist der Raum, den beide bilden, er – der Raum – möchte in sich selbst angenehm tönen. Ich reflektiere dazu die Herleitung des Wortes Person, in dem „per sonare“, durchtönen steckt. Im antiken Theater hielten sich die Schauspieler Masken vor, die den Charakter zeigten, den sie darstellten. So konnte ein Schauspieler zwei oder drei Charaktere gleichzeitig spielen, indem er sich mal die eine, mal die andere Maske vorhielt und seinen Text dazu deklamierte. Der Mensch wird hierdurch zur Hülle der Person, die er augenblicklich darstellt. und so wie er sich in verschiedenen Aspekten darstellen kann, kann er auch verschwinden. So spekuliere ich kurz über das Nichts. Man kann nicht Nichts ausdrücken; denn sobald man Nichts meint, nimmt es Raum ein, ist lokalisierbar, ja erhält gar Eigenschaften. Nichts ist nur nichts, solange es unbemerkt und unbedacht bleibt. – Das wiederum scheint mir zum Ich, einer nicht depersonalisierten selbstbewussten Person zu passen. Sie ist da und wägt sich nicht wie meinerselbst im unerfindlichen, unfassbaren Irgendwo, fern aller Meinhaftigkeit.

Ein weiterer Gedanke, kreist kurz um das Wort „Perso“, das ich als Titel in meiner neuen Webseite für die Vita verwenden werde. Perso heißt aus dem Lateinischen übertragen „verloren“. Also für diese Betrachtung sich selbst ins Nichts verlieren und hinter der Maske wiedertönen, wiederfinden; und da, wie erkannt, bedachtes Nichts auch einen Raum hat, ist das Verlorene nicht nichts, sondern zumindest die Erinnerung an konkretes; womit ich zumindest die Idee, der frühkindlichen Einheit, die durch die erlittene seelische wie physische Gewalt zersplitterte, ankommen, ja anklingen lassen kann. Ich schaffe mir quasi so selbst einen Raum, in dem ich mich wiederfinden mag.

Ob mir auffällt, fragt M.R., dass ich im Gegensatz zum Beginn der Stunde schon längere Zeit beherzt von Ich spreche, wenn ich mich meine. Ich stimme zu und staune zugleich, denn es fühlt sich gut an, als Ich Raum zu haben und ihn auch zu füllen. So gewinne ich eine leise Ahnung, was es bedeuten kann, Ich-Anpassung einzuüben; also mich in mir selbst zu finden und mich meinen Bedürfnissen anzupassen. Jedenfalls weiß ich zu gut, was Fremdanpassung ist, mein Leben lang, war ich der Spiegel für das Bild, das andere in mir sahen. Ja, ich griff geradezu begierig nach der Maske, die sie mir hinhielten, um so für sie und darauf durch sie zu sein, zu werden.

Ich beschreibe M.R., wie ich mich in mir wohlfühle. Wie sich in mir Er und Ich für den Moment finden. Ich spüre der Harmonie nach, die in mir anklingt. Beide Momente meinerselbst bilden für mich spürbar einen Raum. Ich assoziiere dieses Empfinden damit, wie ich mit Dagmar schwinge. Unsere Beziehung ist für mich ein Raum. In dem durchaus auch unterschiedliche Resonanzen schwingen können. Dennoch bleibt er unser Raum, durch den wir wesen und uns ausdrücken. Er basiert auf gegenseitigem Respekt. Hier dürfen wir uns zeigen; wagen es, uns voreinander zu zeigen, wie wir sind; müssen nicht zueinander Masken sein, sondern entblößen uns buchstäblich. Mir kommt das biblische „und sie erkannten einander“ in den Sinn. Sich sehen dürfen und wollen wie man ist. Das ist ankommen.

Meine Augen werden feucht, ich bin tief gerührt. Ich assoziiere, dass ich ebenso in dem Raum, den Ich und Er bilden, mich vor mir in meiner ganzen Verletzlichkeit zeigen darf. Ich darf mich vor mir selbst erkennen. Auch M.R. ist gerührt, gesteht es ein und wendet sich mit ebenfalls feuchten Augen diskret ab.

Ich hätte nicht gedacht, als die Stunde begann, dass sie so Enden würde. Ich denke, wir sind da einen weiten Weg gegangen, vielleicht ein großer Schritt als Summe der Schritte, die wir in dieser Auflage der Traumatherapie durchlaufen haben.

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