Als ich vor 14 Jahren meine Namensänderung beantragte, wurde ich gewissermaßen zwangsgeoutet. Um die Änderung meines Familiennamens zu beantragen, musste ich 2008 vor dem Standesamt nachvollziehbare Gründe offen legen. Also berichtete ich erstmals außer meiner Frau, dem kleinen Kreis in der Suchtselbsthilfegruppe sowie einem Psychologen, den ich acht Jahre zuvor für 20 Stunden konsultiert hatte, einem größeren Kreis Verwaltungsangestellter von meinen traumatischen Widerfahrnissen: dem sexuellen Missbrauch durch die Mutter, der sadistischen Gewalt durch den Vater, die Vergewaltigung durch ihn und schließlich die fortgesetzte Vergewaltigung durch die doppelt so alte Schwägerin. Eine Folge dieses Outings war der Ausbruch einer kPTBS (komplexen posttraumatischen Belastungsstörung), die – weil für mich höchst suizidal – streckenweise lebensbedrohlich war.
Nach erfolgter Namensänderung 2009 begann ich dann Anfang August 2011 meine erste Traumatherapie. Hier setzte sich die Erzählung meines Missbrauchs und der erlittenen Gewalt fort. Der ersten Therapeutin folgte eine zweite und schließlich eine dritte. Dazwischen durchlief ich gut zwei Dutzend probatorische Stunden auf der Suche nach neuen Therapeuten. Auch hier war ich stets genötigt, mich erneut zu offenbaren, wozu ich stereotyp eine Synopse meiner Geschichte aufsagte. Hierdurch schuf ich mir eine innere Distanz zu den erlittenen Schrecklichkeiten, durch die ich mich vor wiederkehrenden Triggern zu schützen vermochte. Gleichwohl waren diese Momente für mich sehr belastend; eine Tortur, die ich nach der dritten Therapeutin alsbald verkürzte, indem ich im zehnten Jahr seit Ausbruch meiner kPTBS bei der ersten Therapeutin eine erneute, vierte Traumatherapie begann.
Allerdings bedingten zehn Jahre Traumatherapie auch einen grundlegenden Wandel meines Selbstverständnisses und meiner Empfindsamkeit. Von der zuvor unterdrückten, dann später verwischten Person gelang es mir – trotz chronischer Depersonalisierung – für mich eine Ahnung meinerselbst zu entwickeln. Den Fortschritt dieser Entwicklung las ich freilich an keiner Skala ab, vielmehr erhellte er sich mir über die Zeit durch Selbstreflektion. Es waren oft nur scheinbar kleine Dinge, die Entwicklungsschritte zeigten. So gab ich beispielsweise keine Hand mehr zur Begrüßung, verbat mir auch herzlich gemeinte Berührungen ebenso wie übergriffige oder schlüpfrige Bemerkungen. Auch wussten in meinem Freundeskreis inzwischen die meisten, dass und aus welchen Gründen ich an einer kPTBS litt und deswegen verschiedene an sich selbstverständliche Dinge vermied.
Letzthin aber geschah etwas, was ich bis dahin ebenso vermied, um nicht in den Augen meiner Mitwelt als „Opfer“ zu erscheinen. Ich war zur Einstellung meiner verordneten Hörgeräte beim Hörgeräteakustiker. Die Meisterin, die die notwendigen Tests und Anpassungen der Geräte durchführte und mit der ich auch über dies und das plauderte, wollte am Ende dieser ersten Sitzung mit mir einen Folgetermin vereinbaren. Ich sagte darauf: „Montags nie, da habe ich Psychotherapie, und dienstags auch nicht, da bin ich derzeit bei meiner Zahnärztin zur Einpassung der Implantate“. Sie gab mir dann einen Termin und fragte zugleich: „Darf ich fragen, warum Sie einen Psychotherapeuten aufsuchen?“
Im ersten Augenblick dachte ich mir, ‚da hast aber einen Fehler gemacht‘; im zweiten Moment wollte ich irgendeinen Grund fabulieren; doch mein dritter und entscheidender Gedanke war: ‚Warum willst du dich verleugnen? Steh zu dir!‘. Also sagte ich: „Ich gehe zur Traumatherapie wegen sexuellen Missbrauchs durch die Mutter und sadistischer Gewalt durch den Vater“, und skizzierte ihr kurz meine Geschichte. Sie war sichtlich darüber erschrocken, was dieser soignierte ältere Herr ihr da erzählte. Zwischendurch fragte sie mich: „Sie erzählen mir aber keine Märchen?“, weil sie das Schreckliche, das ich ihr mitteilte, für unglaublich hielt.
Nachdem ich mich schließlich bis zum nächsten Termin verabschiedet hatte, dachte ich auf dem Heimweg darüber nach, ob mir das eben geschehene peinlich sein müsste. Doch ich kam zu dem Schluss, dass ich allen Grund hätte, stolz auf mich zu sein, schließlich stand ich zu mir und verleugnete mich nicht. Es war zudem mein erstes Coming out als einstiges Missbrauchsopfer; denn alle anderen Bekenntnisse zuvor zu mir geschahen in einer therapeutischen Situation oder waren klandestin und mit dem Versprechen verbunden, es nicht weiterzusagen, so zum Beispiel mein Bericht vor der Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs(UKASK). Vor allem tat es mir gut, dass ich damit erstmals die Täter nicht länger durch mein Schweigen mittelbar schonte.